In den Zehnerjahren zerfiel die alte Weltordnung. Die Macht verschob sich nach China, während der Westen mit sich selbst beschäftigt war.
Geschichten des Jahres. Dieser Artikel ist am 30. November 2019 im Rahmen unseres Schwerpunktes „Die Zehnerjahre“ erschienen.
Ein fiebriges Jahrzehnt geht zu Ende. Eine Dekade, in der sich Gewissheiten auflösten, Hoffnungen zerstoben, gewohnte Spielregeln auf einmal nicht mehr galten und die alte Ordnung zerbröckelte. Das Ächzen und Krachen war unüberhörbar: Die tektonischen Platten des globalen Machtgefüges gerieten in Bewegung. Auch die Schläfrigsten spürten, dass da eine Ära in ihren letzten Zügen lag, die Phase der westlichen Dominanz. Doch die Konturen der neuen Epoche zeichneten sich nur schemenhaft ab – in chinesischen, kyrillischen, arabischen Schriftzeichen. Es war eine Übergangszeit ohne Namen.
In den Wintermonaten rund um den Jahreswechsel 2011 hatte es den Anschein, als ob doch noch alles auf ein „Ende der Geschichte“ hinauslaufen könnte. Eine gewaltige Demokratisierungswelle türmte sich auf. Ihren Ausgang nahm sie in Sidi Bouzid, 200 Kilometer südwestlich von Tunis. Am 17. Dezember 2010 konnte es ein Gemüsehändler namens Mohamed Bouzazi nicht mehr ertragen, von den Behörden getriezt zu werden. Er zündete sich an – und löste damit einen Flächenbrand in der arabischen Welt aus. Jahrzehntelang aufgestaute Frustration über Korruption und krasses Regierungsversagen brach sich Bahn. Binnen weniger Wochen fegten die Proteste einen Langzeit-Potentaten nach dem anderen weg, erst den tunesischen Diktator Zine el-Abidine Ben Ali, dann den ägyptischen Machthaber Hosni Mubarak. In Libyen kam eine westlich geführte Allianz in einer überstürzten und undurchdachten Militärintervention den Gegnern von Muammar Gaddafi mit Luftangriffen zu Hilfe; der Despot verbrachte nach 42 Jahren an der Macht die letzten Minuten seines Lebens versteckt in einem Abwasserrohr, bevor er entdeckt, misshandelt und getötet wurde.
