Gastkommentar

Warum Umwelt stärkere Unterstützung durch die Forschung braucht

(c) Peter Kufner
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Das neue Forschungsprogramm „Horizon Europe“ muss auch gezielt die Fortentwicklung einschlägiger Rechtsinstrumente unterstützen. Damit gewinnt man vielleicht keinen Nobelpreis, aber es wirkt.

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Das Paradigma des Paracelsus, (verkürzt) die Dosis mache das Gift, ist im Wandel. Es ist eben leider nicht nur die bloße Menge eines Schadstoffs, von der seine Wirkungen abhängen. Welche Stoffe begleiten ihn im jeweiligen Umweltmedium, und: Neutralisieren, modulieren oder potenzieren diese gar seine Effekte?

Ökosysteme und auch wir selbst sind ja nie dem „einen“ Stoff ausgesetzt, sondern stets einem regelrechten Cocktail von Substanzen. Das ist übrigens kein Novum der chemisierten Industriegesellschaft, sondern war schon immer so, auch wenn natürlich Zehntausende neu synthetisierte Produkte und damit auch neue Reaktionsprodukte hinzugekommen sind. Organismen können somit zwar prinzipiell mit Stoffcocktails in ihrer Umgebung umgehen – das haben sie seit Anbeginn des Lebens lernen müssen. Wie sich jedoch eine oder mehrere zusätzliche Komponenten in diesem Mix auswirken, ist oft schwer herauszubekommen. Auch, weil unsere – unbestritten hoch entwickelten – Werkzeuge zur Beurteilung von Gefahren stets nur einzelne Substanzen im Blick haben. Schon bisher mussten auch diese Instrumente ständig nachgeschärft und -justiert werden, um neu erkannte Phänomene erfassen zu können.

Mensch und Umwelt schützen

So bewies man in den 70ern, dass FCKW (Fluorchlorkohlenwasserstoffe) Gift für die stratosphärische Ozonschicht sind. Die vergleichsweise klaren Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung ermöglichten den raschen weltweiten Ausstieg aus diesen Stoffen durch einen völkerrechtlichen Vertrag (Montreal-Protokoll zur Wiener Konvention zum Schutz der Ozonschicht). Schwieriger schon ist es, Eigenschaften wie „Persistenz“ oder „Akkumulierung in der Nahrungskette“ so klar zu definieren und mit Untersuchungsmethoden zugänglich zu machen, dass man sie in Rechtsinstrumente einbetten kann, um Unternehmen zu verpflichten, Substanzen auf diese Eigenschaften hin zu testen. Und ganze 23 Jahre benötigten wir, um die Stoffeigenschaft „Schädlich für das Hormonsystem“ so klar und nachvollziehbar beschreiben zu können, dass chemiepolitische Instrumente sicherstellen können, Mensch und Umwelt vor diesen Substanzen bestmöglich zu schützen (und selbst damit sind wir noch nicht fertig).

Jüngster Stresstest

Nicht nur dem Fortschreiten naturwissenschaftlicher Erkenntnis, sondern auch dem Fortschritt der Material- und Produktentwicklung ist die stete Weiterentwicklung der Instrumente zur Gefahren- und Risikobewertung geschuldet. Jüngster Stresstest waren aufwendige Adaptierungen der Testmethoden, um auch neuartige Produkte wie Nanomaterialien beurteilen zu können. Gleichzeitig verfolgen wir heute auch die Belastungen für Mensch und Umwelt in einer noch nie dagewesenen wissenschaftlichen Qualität: Vorüber sind die Zeiten, in denen bestenfalls „anekdotische Evidenz“ zur Kontamination des Menschen mit einzelnen Stoffen verfügbar war.

In den vergangenen Jahren gelang es, ein EU-weites Programm zur systematischen Erfassung dieser Problematik mittels „Human Bio-Monitoring, HBM“ zu implementieren. Das Projekt HBM4EU (https://www.hbm4eu.eu/) untersucht in Humanproben (Blut, Muttermilch, Haare etc.) quer über den Kontinent und über alle Altersgruppen und Bevölkerungsgruppen, ob ergriffene Maßnahmen wirken (also die Belastung nach Stoffverboten auch tatsächlich sinkt) und ob neue Trends entstehen, die entsprechendes Gegensteuern erfordern.

Belastbares Rückgrat

Ein Zusammenspiel aus Einzelinitiativen, konzertierten Aktionen, begrenzten Projekten, anlassbezogenem individuellen, institutionellen oder nationalen Engagement hat bis heute dazu geführt, dass die Methoden zur Erfassung und Bewertung der Eigenschaften von Stoffen weiterentwickelt und standardisiert wurden − eine Voraussetzung für deren Einbettung in das europäische Umweltrecht.

Um jedoch mit den modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen (Stichworte dazu wären etwa: „Toxizität von Gemischen“ oder  „Epigenetik“) und der Innovationskraft der Materialentwicklung (Stichwort: „advanced materials“) Schritt halten zu können, benötigt dieses Zusammenspiel ein belastbares, langfristig aufrechterhaltbares Rückgrat, das der neuartigen Dimension an Komplexität auch gewachsen ist.

Unter der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft wurde die politische Diskussion zu diesem notwendigen Paradigmenwechsel angestoßen. Die Europäische Kommission und auch die Mitgliedstaaten haben diesen dringenden Handlungsbedarf erkannt und erste Schritte gesetzt. Eine Partnerschaft im Rahmen des zukünftigen EU-Forschungsprogramms „Horizon Europe“ soll aufbauend auf den umfangreichen Vorarbeiten und Strukturen nicht nur Human Bio-Monitoring als Instrument der Wirksamkeitskontrolle institutionalisieren, sondern auch den Rahmen für eine gezielte fortlaufende Methodenentwicklung der Gefahren- und Risikobewertung sicherstellen.

Adäquate Co-Finanzierung

An der konkreten Ausformulierung der Inhalte und Ziele, welche diese „Partnership“, dieses neue Rückgrat der angewandten Forschung im Vorfeld der Chemikalien-Politik erfüllen soll, wird zurzeit intensiv gearbeitet. Einen (vergleichsweise sehr geringen) Teil europäischer Forschungsmittel auch für die konkrete Erfüllung umweltpolitischer Anforderungen (etwa die Entwicklung von Testmethoden oder Monitoring-Programmen) zweckzuwidmen, ist ein auch gesellschaftspolitisch eminent wichtiger Schritt, dem weitere folgen müssen.

So gilt es, in den Mitgliedstaaten – in Entsprechung der bisherigen Unterstützung – auch die adäquate Co-Finanzierung aus nationalen Forschungsmitteln sicherzustellen. Schließlich wird es auch notwendig sein, die Verzahnung zwischen angewandter Forschung und den rechtlichen Schutzinstrumenten zu verstärken und auf ein solides Fundament zu stellen. Auf die entstehende Partnership als Schnittstelle zwischen „Wissenschaft und Forschung“ werden zum einen auch die einschlägigen europäischen Richtlinien und Verordnungen Bezug nehmen müssen. Zum anderen wird auch eine Einbettung in die europäischen Institutionen notwendig sein.

Gleich drei EU-Agenturen bieten sich dafür an: Die Chemikalienagentur in Helsinki, die Umweltagentur in Kopenhagen und die Agentur für Lebensmittelsicherheit in Parma. Es gibt – auch für die neue EU-Kommission – noch viel zu tun, denn mit Beginn 2022 soll die neue Partnership startklar sein.

Der Autor

Thomas Jakl (* 1965) ist Biologe und Erdwissenschaftler. Er arbeitete bis 1991 an der Uni Wien, wechselte dann ins Umweltministerium.
Inzwischen ist er in leitenden Funktionen im Bereich des Umweltschutzes in verschiedenen nationalen und internationalen Institutionen tätig. Unter anderem ist er Mitglied des Vorstandes des Forums Wissenschaft und Umwelt; er war Vorsitzender des Verwaltungsrates der EU-Chemikalienagentur.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.12.2019)

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