Mein Dienstag

Der Kompromiss

Ermüdet von einem Wochenende voller Christkindlmarktereignisse und eigentlich nur zu drei Vierteln wach schleife ich einen Teil meiner Familie in das türkische Restaurant meines Vertrauens, wo uns nach der Ankunft erst einmal nach Reha ist.

Wir schauen uns die Menükarte an, minutenlang, dann schauen wir einander an, dann wieder die Menükarte. Wir können uns nicht entscheiden, und dass die bestellbaren Speisen nicht nur sorgfältig beschrieben, sondern zusätzlich fotografisch abgebildet sind, hilft uns auch nicht weiter. Als der Kellner zu unserem Tisch der Einschlafenden kommt, zeigen wir wort- und wahllos auf irgendwelche Teller mit Fleisch, Brot und anderem Fleisch. Der Kellner schaut uns wunderlich an, dann sagt er „Nein“. Jetzt schauen wir wunderlich. Er sagt: „Ihr könnt das nicht essen. Bestellt das da“, und zeigt auf ein ganz anderes Fleisch. Jetzt bestehen wir plötzlich auf die Gerichte, die uns vor drei Sekunden noch explizit egal waren, wir sagen: „Wir möchten aber das und das“, darauf sagt der Kellner: „Ja, gut, aber das wird euch nicht schmecken“, und wir fragen: „Woher willst du das wissen, du Professor?“, und er sagt: „Es schmeckt niemandem“, worauf wir uns leicht empören: „Warum steht das dann auf der Speisekarte?“, worauf er sagt: „Was weiß denn ich, sehe ich so aus, als hätte ich die Speisekarte gemacht?“ Dann geht er und bringt uns eine Mischung aus den Speisen, die wir gern hätten, und jenen, von denen er gern hätte, dass wir sie essen. Uns ist also ein Kompromiss passiert.

Manchmal sind die Empfehlungen eben mehr als nur Empfehlungen. Ich habe das leider auch, ich mische mich ständig in das Mittagsmenü der Arbeitskollegen ein („Das willst du essen? Warum? Nimm doch das da, das ist viel besser.“). Beim türkischen Bäcker bei uns gegenüber habe ich unlängst eine Topfengolatsche bestellt, aber er hat mir zwei Kipferln eingepackt. „Die sind frischer“, hat er gesagt. „Na gut, okay“, habe ich geantwortet, „aber geben Sie mir trotzdem noch eine Topfengolatsche?“ Gab er mir zu bedenken: „Die sind nicht mehr so gut.“ Was soll man da noch sagen? Nichts. Ich mache ja nicht die Speisekarte für mich.

E-Mails an:duygu.oezkan@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.12.2019)

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