Großbritannien hat gewählt

Boris Johnson holt die absolute Mehrheit – Jeremy Corbyn geht

BritainâAeOes general election 2019
BritainâAeOes general election 2019REUTERS
  • Drucken

Die britischen Konservativen feiern einen „historischen Sieg". Ein rascher Brexit soll nun folgen. Dafür wurden sie selbst von Anhängern der Labour-Partei gewählt. Deren Parteichef Jeremy Corbyn zog die Konsequenzen: Er stellte seinen baldigen Rücktritt in Aussicht.

Blyth Valley im Nordosten Englands war einer der ersten Wahlbezirke, der ein Ergebnis verkündete. Nicht ganz der erste, wie es geplant war, denn es musste nachgezählt werden. Wo einst Labour mit Respektabstand einen Abgeordneten stellen konnte, siegte nun zum ersten Mal der Kandidat der Konservativen.

Die britischen Unterhauswahlen wurden zum großen Erfolg für Premierminister Boris Johnson. Am frühen Freitagmorgen wurde es quasi amtlich: Die Konservativen des britischen Premierministers Boris Johnson haben bei der Unterhauswahl die absolute Mandatsmehrheit errungen. Mit der Auszählung des Wahlkreises Worthing West erreichten die Tories am Freitag in der Früh das entscheidende 326. Mandat, berichtete der Fernsehsender Sky News. Noch sind noch einige Wahlkreise auszuzählen. 

Prognosen zufolge werden die Tories rund um 360 Mandate im Unterhaus haben. Das wäre die größte konservative Mandatsmehrheit seit dem letzten Wahlsieg der legendären Premierministerin Margaret Thatcher im Jahr 1987. Bei der Wahl 2017 hatten die Konservativen ihre knappe absolute Mehrheit eingebüßt und waren danach auf die Unterstützung der nordirischen Unionisten angewiesen.

Die oppositionelle Labour Party konnte sich immerhin (anders als nach ersten Einschätzungen) über der symbolischen Marke von 200 Mandaten halten, verlor aber 60 Sitze im Vergleich zur Wahl 2017. Es handelte sich um den geringsten Mandatsstand seit dem Jahr 1935. Oppositionsführer Jeremy Corbyn hat noch in der Wahlnacht seinen Rückzug angekündigt. Er werde nach dieser „sehr enttäuschenden Nacht“ seine Partei nicht mehr in die nächste Wahl führen.

APA/AFP/ISABEL INFANTES

„Man kann von einem Blutbad sprechen“

Denn je mehr Stimmen in der Nacht ausgezählt wurden, desto klarer wurde: Die sogenannte „Red Wall“ - Wahlbezirke von Wales bis Nordost-England, die normalerweise fest in Labour-Hand sind - gingen zu großen Teilen an Tory-Abgeordnete. Es sind Arbeiter-Regionen, in denen aber auch mehrheitlich ein EU-Austritt befürwortet wird. Ein Dilemma, für das Corbyn keine richtige Strategie parat hatte.

Nach dem historischen Durchbruch im Wahlkreis Blythe Valley konnten die Tories etwa auch die Arbeiterbezirke Workington und Darlington gewinnen. "Man kann von einem Blutbad sprechen", sagte ein Kommentator des Fernsehsenders Sky News.

LibDem-Chefin verliert Sitz im Unterhaus

Ein Wahldesaster setzte es auch für die pro-europäischen Liberaldemokraten, die den EU-Austrittsantrag rückgängig machen wollten. Ihre Chefin Jo Swinson verlor sogar ihren Sitz im schottischen Dunbartonshire East an die Schottische Nationalpartei (SNP). Diese käme den Exit Polls zufolge landesweit auf 55 Mandate (von 59 in Schottland), was einen deutlichen Zuwachs bedeuten würde - und den Plänen eines neuen schottischen Unabhängigkeitsreferendum neuen Aufwind gibt.

Einen Denkzettel für ihren Brexit-Kurs erhielten auch die nordirischen Unionisten: Der Fraktionschef der "Democratic Unionist Party" (DUP), Nigel Dodds, verlor seinen Parlamentssitz in Belfast an einen Vertreter der irisch-nationalistischen Sinn Fein. Erstmals seit der Teilung der Insel könnte Nordirland damit mehr irisch-nationalistische Abgeordnete haben als Unionisten.

Nordirland hatte beim Austrittsreferendum im Jahr 2016 mehrheitlich für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt. Den Unionisten war es aber während der Brexit-Verhandlungen ein großes Anliegen, eine möglichst enge Anbindung an den Rest des Vereinigten Königreichs zu erhalten.

APA/AFP/PAUL ELLIS

Johnson spricht von „historischem Sieg“

Premierminister Boris Johnson wertete den sich abzeichnenden Erdrutschsieg der Tories als "historisch" und "mächtiges Mandat für den Brexit". Die britische Regierung habe nun die Gelegenheit, "den demokratischen Willen des britischen Volkes zu respektieren". Mit der Arbeit daran werde man schon "heute" beginnen, sagte Johnson bei der Verkündung des Ergebnisses in seinem Londoner Wahlkreis.

Johnson hatte Warnungen vor einer Verlängerung des politischen Patts gleich nach dem Kampf gegen Labour in den Vordergrund seines Wahlkampfs gestellt. Nur eine klare Mehrheit für seine Konservativen würden eine Umsetzung des Brexit zum Stichtag 31. Jänner 2020 sicherstellen, sagte er mit der Parole: „Get Brexit done“. Unentschiedene Machtverhältnisse würden nur weiteres „Zögern und Zaudern“ bringen.

Denn bei der letzten Wahl im Juni 2017 hatten die Konservativen 42,3 Prozent der Stimmen und nur 317 Mandate gewonnen - eine Enttäuschung für die damalige Premierministerin Theresa May, die ähnliche wie Johnson zwei Jahre später einen Machtausbau angestrebt hatte.

Das britische Mehrheitswahlrecht

Das britische Unterhaus hat 650 Sitze. Für eine absolute Mehrheit sind aber dennoch weniger als die Hälfte plus eins davon (326 Mandate) erforderlich, da traditionell die Parlamentspräsidenten nicht an Abstimmungen teilnehmen und die irische Partei Sinn Féin ihre Sitze im Londoner Parlament aus Protest nicht annimmt. Nach der letzten Wahl 2017 lag die Grenze bei 320 Mandaten.

Großbritannien hat ein relatives Mehrheitswahlrecht. Ins Parlament zieht nur der Kandidat mit den meisten Stimmen in seinem Wahlkreis ein. Die Stimmen für unterlegene Kandidaten verfallen. Das führt dazu, dass die beiden großen Parteien - also Konservative und Labour - bevorzugt werden und bringt in der Regel klare Mehrheitsverhältnisse.

Schicksalswahl hat mobilisiert

Das Pochen auf eine klare Entscheidung hatte auch einen anderen Grund: Im Gegensatz zu seinen Kontrahenten hatte Johnson keinen Partner für eine (offene oder stille) Zusammenarbeit. Labour versprach zwar, „keine Verhandlungen, keine Deals und keine Koalitionen“. Die Partei konnte aber in zahlreichen Wahlkreisen auf die Stimmen von Liberaldemokraten und SNP hoffen.

Nach einem einseitigen Wahlkampf, der von der Brexit-Botschaft Johnsons dominiert war, schrumpfte in den letzten Tagen der Vorsprung der Konservativen. Am Wahltag wurde schon in den ersten Stunden starker Andrang zu den Wahllokalen gemeldet. Vor zwei Jahren war die Wahlbeteiligung bei 68,8 Prozent gelegen. Obwohl die Briten gestern bereits zum dritten Mal in vier Jahren zur Wahl gerufen waren, schien die Botschaft der Parteien, die beide von einer „Schicksalswahl“ sprachen, anzukommen.

Herausforderungen für den Premier

Tatsächlich steht der neu gewählte Premierminister vor zahlreichen Herausforderungen, von denen der Brexit keineswegs die einzige ist. Selbst wenn der EU-Austritt fristgemäß erfolgt, beginnt danach eine Übergangsperiode bis Ende 2020. Gelingt es in dieser Zeit nicht, ein umfassendes Handelsabkommen mit den EU-27 auszuhandeln, droht – wieder einmal – der „hard Brexit“. Oder eine Fortsetzung der Agonie der vergangenen Jahre, inklusive Verlängerung der Übergangszeit.

War die britische Wirtschaft bisher bemerkenswert widerstandsfähig gewesen, so geht ihr nun nach dreieinhalb Jahren Brexit-Unsicherheit offenbar die Luft aus. Den letzten Quartalsdaten zufolge fiel das Wachstum in zwei der drei vergangenen Monate. Die marode Infrastruktur, die ausgehungerte Verwaltung, das geldverschlingende Gesundheitswesen – sie brauchen Milliarden, die das Land nicht hat: Die Staatsverschuldung liegt mit 1,8 Billionen Pfund bei 84,2 Prozent des BIP.

Die Aussicht auf eine absolute Mehrheit der Konservativen gab dem Pfund jedenfalls Auftrieb. Die britische Währung verteuerte sich am Donnerstag um gut zwei Prozent auf 1,13480 Dollar. Damit ist die Devise auf dem Weg zu höchsten Tageszuwachs seit Jänner 2017. Auch zum Euro legte das Pfund etwa zwei Prozent auf 82.845 Pence zu. Das ist der höchste Wert seit Juli 2016.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.