Sozialversicherungsreform

VfGH: Kassenfusion ist nicht verfassungswidrig

VFGH ?SOZIALVERSICHERUNGSREFORM?: GRABENWARTER
VFGH ?SOZIALVERSICHERUNGSREFORM?: GRABENWARTERAPA/HANS PUNZ
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Ein weiteres türkis-blaues Großprojekt steht auf dem Prüfstand: die Kassenreform. Insgesamt liegen 14 Beschwerden gegen sie vor. Der VfGH bestätigte die Reform - allerdings: die Zusammenlegung der Prüforgane ist verfassungswidrig.

Beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) geht es Schlag auf Schlag. Nachdem die Höchstrichter am Mittwoch weite Teile des türkis-blauen Sicherheits- bzw. Überwachungspakets aufgehoben haben, stand ein weiteres Prestigeprojekt der früheren ÖVP-FPÖ-Regierung am Prüfstand: Am Freitagvormittag verkündeten die Verfassungsrichter ihre Entscheidung zur Fusion der Gebietskrankenkassen.

Und die lautet: Die Kassenfusion ist nicht verfassungswidrig. Sowohl die Strukturreform mit einer starken Reduktion der Träger als auch die paritätische Besetzung der Gremien zwischen Dienstgebern und Dienstnehmern wurden vom VfGH in einer am Freitag verkündeten Entscheidung für verfassungskonform befunden.

Verfassungswidrig ist hingegen die geplant gewesene Übertragung der Sozialversicherungsprüfung von den Kassen an die Finanz. Auch die Bestimmungen über den neuen Eignungstest für die Kassenfunktionäre wurden aufgehoben.

Insgesamt lagen VfGH 14 Beschwerden gegen die Reform vor. Eingebracht haben die Anträge Vertreter der Krankenkassen, der Arbeiterkammern, der Dienstnehmer sowie die SPÖ über ihre Bundesratsfraktion.

Verweis auf Spielraum des Gesetzgebers

Die schriftliche Ausfertigung des hoch komplexen, in 15 Unterpunkte unterteilten Urteils ist gut 500 Seiten lang. Es soll den Parteien bis Jahresende zugestellt werden und dann auch veröffentlicht werden, gab VfGH-Vizepräsident Christoph Grabenwarter, der das Gericht seit der Berufung von Präsidentin Brigitte Bierlein zur Bundeskanzlerin leitet, am Freitag in der öffentlichen Verkündung bekannt.

Dass die Zusammenlegung der neun Gebietskrankenkassen zur Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) nicht verfassungswidrig sei, begründete Grabenwarter mit dem rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Dieser benötige nicht in jedem Fall einen äußeren Anlass, um "eine wenn auch bewährte Organisationsform durch eine ihm günstiger scheinende zu ersetzen". Dass durch die Reform eine sparsame, wirtschaftliche und zweckmäßige Verwaltungsführung nicht mehr gewährleistet wäre, sieht der VfGH nicht zwangsläufig gegeben.

Ähnlich argumentiert der VfGH bezüglich der Änderung bei der Zusammensetzung der Sozialversicherungsorgane. Dass die Arbeitnehmer etwa in der ÖGK nur noch die Hälfte und nicht mehr vier Fünftel der Vertreter stellen, sieht er durch den "erheblichen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers" in dieser Frage gedeckt. Außerdem seien nach dem Konzept des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes nicht nur Dienstnehmer, sondern auch Dienstgeber Angehörige der Sozialversicherung. Zusätzlich erinnerte der VfGH an sein ähnlich lautendes Erkenntnis aus dem Jahr 2003 zur Reform des Hauptverbands.

Eingriffe in Selbstverwaltung aufgehoben

Aufgehoben wurden neben Sozialversicherungsprüfung und Eignungstests auch einige Bestimmungen, mit der die staatliche Aufsicht bzw. das Sozialministerium in die Kassen eingreifen hätte können, etwa durch Verschiebung von Beschlüssen. Für die aufgehobene Übertragung der Sozialversicherungsprüfung an die Finanz wurde eine Reparaturfrist bis 1. Juli 2020 gesetzt, alles andere gilt ab sofort.

Bei den Eignungstest sah der VfGH Anforderungen aufgestellt, "die geeignet sind, eine Organbestellung nach demokratischen Grundsätzen zu unterlaufen". Dies auch deshalb, weil eine Prüfung über Inhalte weiter über den jeweiligen Sozialversicherungsträger hinaus und einer externen Prüfungskommission vorgesehen wurde.

Als nicht verfassungskonform erachtet der VfGH die neu installierten staatlichen Aufsichtsmöglichkeiten in der Sozialversicherung, denn die seien "praktisch auf die gesamte Gebarung der Sozialversicherung" erstreckt worden, was das Maß des Erforderlichen übersteige. Einen verfassungswidrigen Eingriff in die Satzungsautonomie sehen die Höchstrichter in den vorgegebenen Mustergeschäftsordnungen.

Ein "sachlich nicht gerechtfertigter und daher verfassungswidriger Eingriff in die Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger" ist laut VfGH auch die Befugnis der Aufsichtsbehörde, Beschlüsse der Sozialversicherungsorgane anlass- und begründungslos vertagen zu lassen. Ebenfalls nicht gültig ist die Vorgabe, dass sich die Sozialversicherungen den Zielsteuerungsvorgaben des Sozialministeriums unterwerfen müssen.

Aufgehoben wurden zudem einige Punkte bezüglich des Überleitungsausschusses, der für die Kassen bis zum Inkrafttreten der Reform mit 1. Jänner 2020 zuständig ist: Etwa dass dessen Vorsitzender der Gruppe der Dienstgeber anzugehören hat und dass er bestimmte Beschlüsse dem Sozialminister zur Entscheidung vorlegen kann.

Zur Übertragung des Sozialversicherungsprüfung an die Finanzbehörden heißt es: "Ein Regelungssystem, das einem im eigenen Wirkungsbereich entscheidenden Selbstverwaltungskörper praktisch jeden Einfluss auf Art und Umfang des Ermittlungsverfahrens nimmt, ist unsachlich und widerspricht den verfassungsrechtlichen Organisationsprinzipien der Selbstverwaltung."

Übervorteilung der Arbeitgeber?

Die Verfassungsbeschwerden hatten sich nicht nur gegen die Fusion der Gebiets- und Betriebskrankenkassen zur ÖGK ab 1. Jänner 2020 gerichtet. Insbesondere bekämpften die Arbeitnehmervertreter ihre Entmachtung in der neuen Mega-Krankenkasse. Erst am Dienstag hatte die Arbeiterkammer das neue System als "zutiefst undemokratisch" kritisiert, weil die Vertreter der 160.000 Arbeitgeber künftig gleich viele Stimmen haben werden wie die Vertreter von 7,2 Millionen Versicherten.

Die Beschwerdeführer sehen darin, aber auch in vielen anderen Punkten einen Verstoß gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Selbstverwaltung. Auch dass die Bezahlung der lohnabhängigen Abgaben und der Sozialversicherungsbeiträge künftig ausschließlich von der Finanzverwaltung und nicht mehr von den Kassen selbst geprüft werden soll, war Teil der Beschwerden.

Landes- und Betriebskrankenkassen wollten Prüfung

Gegen die Organisationsreform der Sozialversicherung von ÖVP und FPÖ lagen den Höchstrichtern 14 Gesetzesprüfungsanträge vor, die sie ab dem 23. September prüften. Die Anträge richten sich unter anderem gegen die Vereinigung der Gebietskrankenkassen und der Betriebskrankenkassen zur ÖGK. Auch die Neugestaltung der Verwaltungskörper der Sozialversicherungsträger - und die Einführung eines Eignungstests für deren Mitglieder -, die Neuregelung der staatlichen Aufsicht über die Sozialversicherungsträger sowie die Zusammenführung der Prüfung lohnabhängiger Abgaben und Sozialversicherungsbeiträge beim Bundesministerium für Finanzen wurden darin kritisiert. Die Antragsteller sehen insbesondere einen Verstoß gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Selbstverwaltung.

Antragsteller waren die SPÖ-Bundesratsfraktion, die Gebietskrankenkassen von Kärnten, Oberösterreich, Tirol und der Steiermark, die Betriebskrankenkassen Voestalpine Bahnsysteme, Kapfenberg, Zeltweg und Mondi, die Arbeiterkammern Tirol und Vorarlberg, der Betriebsrat der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse, der Seniorenrat, das Landesgericht Linz als Arbeits- und Sozialgericht, mehrere Versicherte sowie 113 Mitglieder der Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte, die in die Verwaltungskörper von Sozialversicherungsträgern entsendet worden sind.

Wirtschaft erfreut

Jene Parteien, die die Reform durch den Nationalrat gebracht hatten, waren Grosso modo zufrieden. ÖVP-Klubobmann August Wöginger sah "ein klares Bekenntnis zu einer modernen Selbstverwaltung". Die freiheitliche Gesundheitssprecherin, Dagmar Belakowitsch, nannte den Spruch eine "gute Entscheidung für unser Gesundheitssystem". Wirtschaftskammer-Generalsekretär Karlheinz Kopf erkannte durch den Spruch zur Parität "Fairness für die Arbeitgeber" sichergestellt, da sie in etwa die Hälfte der Beiträge zu Kranken-, Pensions- und Unfallversicherung leisteten.

Dem scheidenden Sozialversicherungschef Alexander Biach gefiel wiederum, dass der Einfluss der Regierung zurückgedrängt wurde. Er sieht im Erkenntnis eine klare Absage an ein verstaatlichtes Sozialversicherungssystem. Matthias Krenn (FPÖ), Chef des Überleitungsausschusses und künftig ÖGK-Obmann, versicherte, dass die Sozialversicherung ein Abbild gelebter sozialpartnerschaftlicher Zusammenarbeit bleibe.

Enttäuschung herrschte bei den Arbeitnehmer-Vertretern, die über die AK und einzelne Kassen die Beschwerde gegen die Reform getragen hatten. ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian bezeichnete die Entscheidung zur Parität als unverständlich. Arbeiterkammer-Chefin Renate Anderl nannte sie ungerecht. Seitens der roten Bundesräte, die die Reform ebenfalls angefochten hatte, kündigte deren Vorsitzende, Korinna Schumann, nun einen politischen Kampf an, damit diese Maßnahme zurückgenommen wird. (APA/Red.)

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