Gedankenlese

Wo Frauen darum kämpfen, nicht zu Tode geprügelt zu werden

Russlands Gesellschaft erlebt gerade, angetrieben auch von der Kirche, einen Schub der Frauenfeindlichkeit.

Während die Frauen im Westen ihr Recht einfordern, keine Opfer von Belästigungen zu sein, kämpfen die Frauen in Russland noch um ihr Recht, nicht zu Tode geprügelt zu werden.“ Der Befund der Moskauer Autorin Liza Alexandrova-Zorina ist dramatisch. In einem Essay über „Orthodoxie, Patriarchalismus und Gewalt im postsowjetischen Raum“ in der jüngsten Ausgabe der Kulturzeitung „Lettre International“ (Nr. 17) befasst sie sich ausführlich mit der heutigen Situation der russischen Frauen und beklagt, dass Russland auch beim Umgang mit dem weiblichen Teil seiner Bevölkerung gerade einen Rückschritt in frühere Jahrhunderte mache.

Die russisch-orthodoxe Kirche spielt auch hier eine unrühmliche Rolle. Alexandrova-Zorina schreibt, dass die Kirche im Grunde in die Fußstapfen der Abteilung für Propaganda und Agitation der untergegangenen KPdSU getreten sei: „In Gottesdiensten und von TV-Schirmen rufen Priester die Frauen zu Demut und Gehorsam auf, predigen körperliche Züchtigung von Ehefrauen und Kindern, bekämpfen Scheidungen, Homosexuelle, Frauen, die sich für Karriere entschieden haben, und brandmarken selbst den romantischen Valentinstag als ,Teufelswerk‘ (. . .) Im 21. Jahrhundert fordert die Kirche uns auf, erneut nach den Regeln des 16. Jahrhunderts zu leben.“ Den russischen Informationsraum bezeichnet die Autorin als durchwegs frauenfeindlich. In sämtlichen Medien stoße man auf erniedrigende Stellungnahmen von Politikern, Geistlichen oder Journalisten an Frauen; in Talkshows des staatlichen Fernsehens würden Frauen öffentlich herabgesetzt und lächerlich gemacht. Die soziale Rolle der Frau, die kultiviert wird, ist die der Hüterin des Familienherds und der glücklichen Mätresse. Frauen sollten sich nur an die Glücksformel der fünf Ks halten: Kinder, Küche, Kirche, Kleider, Kaiser. Und kommt es dann zu Gewalttaten gegen Frauen, wird die Schuld nur zu gern dem Opfer gegeben und die anklagende Frau als Nestbeschmutzerin verunglimpft.

In „Le Monde diplomatique“ (11/2019) berichtet die Journalistin Audrey Lebel, dass nach amtlichen Zahlen 16 Millionen russische Frauen häuslicher Gewalt ausgesetzt seien. Jährlich kommen laut dem Frauenschutzzentrum Anna über 8300 Frauen durch die Hand ihres Partners oder Ehemanns um. (Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nannte sogar die Zahl von 14.000 weiblichen Todesopfern von häuslicher Gewalt im Jahr, jede dritte Frau in Russland werde regelmäßig verprügelt). Audrey kritisiert vor allem, dass in Russland nicht wirklich etwas getan werde, um Frauen vor gewalttätigen Partnern zu schützen, die Polizei sieht häusliche Gewalt oft genug als reine Familienangelegenheit an.

Wie immer neue Berichte zeigen, ist freilich die Situation der indischen Frauen noch schlimmer. Indien wird inzwischen als das gefährlichste Land für Frauen weltweit eingestuft, mit 40.000 angezeigten Vergewaltigungen im Jahr (2016), wobei die tatsächliche Zahl viel höher sein dürfte. Indische Kommentatoren beklagen, dass Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Gewalt in ihrer Gesellschaft unter der Herrschaft von Narendra Modi zugenommen hätten. Denn der Hindu-Nationalismus verkomme allmählich zur Herrschaft des Straßenmobs. Dafür gibt es in Österreich gewiss keine Anzeichen. Aber 34 Morde an Frauen bereits in diesem Jahr, davon 14 allein in Niederösterreich, sollten doch alle Alarmglocken schrillen lassen. Eine Schande für eine moderne, um Schutz und Gerechtigkeit bemühte Gesellschaft sind sie allemal.

Emails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.12.2019)

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