Justiz

Digitale Akten statt Papierberge

Stapelweise Gerichtsunterlagen – ein (noch) gewohntes Bild, das aber im Digitalzeitalter keine Zukunft haben soll.
Stapelweise Gerichtsunterlagen – ein (noch) gewohntes Bild, das aber im Digitalzeitalter keine Zukunft haben soll.(c) APA/ROBERT PARIGGER
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Das Handelsgericht Wien ist ein Standort, an dem Verhandlungen auf Basis von elektronischen Gerichtsakten forciert werden. Bundesweit ist man aber im Verzug.

Wien. Sie wirken wie unverzichtbare Requisiten in Österreichs Gerichtssälen: die Aktenstapel auf den Richtertischen. Mit dem seit Jahren von der Justizverwaltung herbeigesehnten elektronischen bzw. digitalen Gerichtsakt soll dieses Bild möglichst bald der Vergangenheit angehören. Am Mittwoch präsentierte das Handelsgericht (HG) Wien, eines jener Gerichte, in dem es den digitalen Akt zum Teil schon gibt, wie sich Verhandlungen künftig abspielen.

Schon der erste Eindruck beim Betreten des Gerichtssaals ist anders als erwartet – Papier sucht man vergeblich. Keine Stapel, keine Bände, keine Kisten. Apropos: Nicht selten finden in Österreich Verhandlungen statt, bei denen alle Schriftstücke eines Verfahrens („Akt“) hinter dem Richtertisch aufgestapelt sind (beim Bawag-Prozess um Helmut Elsner wurden die Kisten mit den Akten nicht nur hinter, sondern auch vor dem Richtertisch platziert). Dies fällt im Zeitalter von „Justiz 3.0“, wie es im PR-Jargon des Justizministeriums heißt, natürlich weg.

Zurück ins HG Wien, wo bereits 16 der insgesamt 48 Abteilungen, die sich mit strittigen Rechtssachen befassen, die einlangenden Unterlagen zu einem digitalen Akt verarbeiten (pro Jahr fallen im HG 2800 Streitfälle an): Im Saal sehen die Streitparteien nur noch große, auf den Tischen schräg gestellte Monitore. Der Richter steuert von seiner erhöhten Sitzposition aus (diese Form der Erhabenheit soll auch im Digitalzeitalter bestehen bleiben) die Verhandlung. Und zwar buchstäblich. Er spielt die Aktenteile ein, die die Prozessbeteiligten auf ihren Monitoren zu sehen bekommen sollen; er ist sozusagen der durch die Tiefen des Gerichtsakts führende Reiseleiter. Umständliches Suchen nach Protokollen, die eine „Ordnungsnummer“ tragen und in einem Papierberg lagern, fällt weg.

Was im HG – und auch in einigen Landesgerichten – verwirklicht wird, entspricht ganz den Intentionen des Justizressorts. Doch es geht – nicht zuletzt aus budgetären Gründen – viel langsamer als gewollt. So bremste auch der Präsident des Wiener Landesgerichts für Strafsachen, Friedrich Forsthuber, am Mittwoch die Euphorie der Theoretiker: In seinem Haus, das in den nächsten Jahren einem (ebenfalls aus Kostengründen verspäteten) Umbau entgegensieht, werde es bis 2026 dauern, ehe der digitale Akt Realität sei.

„Es wäre der größte Horror . . .“

Und wie lang wird es brauchen, bis sämtliche Justizbehörden Österreichs „digital“ sind? Diese Prognose wagt derzeit weder HG-Präsidentin Maria Wittmann-Tiwald noch die Präsidentin der Richtervereinigung, Sabine Matejka, noch Forsthuber. Ursprünglich hatte das Ministerium eine flächendeckende Einführung schon für 2020 angekündigt.

Um keine Verwechslung aufkommen zu lassen: Den elektronischen Rechtsverkehr (ERV), die papierlose Kommunikation zwischen Verfahrensbeteiligten, gibt es seit etwa 30 Jahren. Dies hat zuletzt nichts daran geändert, dass der Akt an sich letztlich als Papierakt geführt wurde. Freilich ist es vorgesehen, dass künftig alles, was per ERV bei Gericht einlangt, in den digitalen Akt eingespeist wird.

Auf Letzteren werden dann mehrere Stellen (Gerichtskanzlei, Richter, Gutachter) gleichzeitig zugreifen können. Und: Das Warten auf das (physische) Verschicken des Akts fällt weg. Ebenso wie das Archivieren von Papier. So müssen etwa die Akten von Strafsachen 50 Jahre lang aufbewahrt werden.

Wird künftig noch weniger Personal am Werk sein? Nein, sagt Matejka – denn man werde IT-kundige Helfer brauchen. „Es wäre der größte Horror, wenn in der Verhandlung der PC abstürzt und kein IT-Mitarbeiter da wäre.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2019)

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