Welche Romane 2019 begeistert haben

Von Ali Smith bis Raffaela Romagnolo: Welche Bücher die Rezensenten der "Presse" in diesem Jahr begeistert haben. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Grandioses Familienporträt

Wer Jonathan Franzens Roman "Die Korrekturen" mag, der wird auch Andrew Ridkers grandioses und erstaunliches reifes Debüt "Die Altruisten" mögen. Es ist das tragikomische Porträt einer dysfunktionalen Familie, die seit dem Tod der Ehefrau und Mutter, der Psychoanalytikerin Francine,
getrennte Wege geht. Zwei Jahre später kommen die drei Alters - Vater Arthur, Ethan und Maggie, neurotische Egozentriker allesamt -
wieder in St. Louis zusammen, und die Konflikte und Traumata brechen von Neuem auf. Vielschichtiger, psychologisch dichter und
sarkastischer als die Dutzendware der US-Literatur. Es macht Lust auf Widkers zweiten Roman.

Andrew Ridker: „Die Altruisten“, Übersetzt von Thomas Gunkel, Penguin Verlag, 396 Seiten, 22,70 Euro

Meisterhaft formuliert

2016, nach dem Brexit-Referendum: Es ist Herbst, doch Daniel, die Hauptfigur in dem schmalen Roman, hat bereits seinen Winter erreicht, des Lebens Ende. Und Großbritannien befindet sich im Niedergang. Die Erzählerin, zwei Generationen jünger als er, besucht ihn im Altersheim. Diese Elisabeth liest ihm Geschichten vor. Als sie noch klein war, hat Daniel auf das vernachlässigte Kind aufgepasst, es gefördert. Er weiß noch immer zu erzählen. Sprich, Erinnerung! Vom Leben, der Liebe, Verlusten handeln die losen Episoden. Ein fantasievolles Buch über Freundschaft, meisterhaft formuliert, atmosphärisch dicht, das erste in einem geplanten Quartett mit den Jahreszeiten als Titel. Drei sind auf Englisch bisher erschienen (nach „Autumn“ schon „Winter“ und „Spring“). Das erste liegt nun auf Deutsch vor.

Ali Smith: „Herbst“, Luchterhand, 272 Seiten, 22 Euro

Flucht und Heimkehr


Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt Giulia, inzwischen Geschäftsfrau in New York, in ihre Heimat im Piemont zurück. Vor fünfzig Jahren ist sie davongelaufen – damals war sie Arbeiterin in einer Seidenfabrik und schwanger. Ihr Verlobter aber hat sich in ihre beste Freundin verliebt. Ein Buch über soziales Elend zur Jahrhundertwende und über den aufkeimenden und schließlich regierenden Faschismus also. Man könnte die Absicht fühlen und verstimmt sein. Bevor sich aber die leiseste Verstimmung einstellt, ist man schon mitten in der Geschichte, leidet und freut sich mich mit den Personen, folgt ihnen gebannt durch die Fährnisse eines gefährlichen, wilden, tragischen, schönen Lebens. Großartig!

Raffaella Romagnolo: „Bella Ciao“, 528 Seiten, Diogenes Verlag, 24,70 Euro

Über das Vergeben und Vergessen

"Monster" beginnt mit einem Eklat: Ein von der Gedenkstätte Yad Vashem abgestellter Führer durch die NS-Vernichtungslager im besetzten Polen schlägt dort einen deutschen Filmregisseur nieder. Der dichte, bedrückende Roman von Yishai Sarid rechtfertigt die Tat. Er erzählt die Geschichte eines Mannes, der versucht, den Holocaust rein rational zu bewältigen, sich dem Sog der mit diesem Thema verbundenen Emotionen aber bald nicht mehr entziehen kann. Mit "Monster" hat der israelische Anwalt Yishai Sarid eines der beeindruckendsten Bücher zum Thema Vergangenheitsbewältigung, Vergeben und Vergessen geschrieben. Angesichts der immer weniger werdenden Zeitzeugen fast Pflichtlektüre.

Yishai Sarid: "Monster", übersetzt von Ruth Achlama, Verlag Kein & Aber, 176 Seiten, 21,60 Euro

Eine unkonventionelle erste Liebe

"Die einzige Geschichte" erzählt von der ungewöhnlichen Liebe zwischen einem Studenten und einer fast 30 Jahre älteren, verheirateten Frau. Was als Sommerromanze auf dem Tennisplatz beginnt, hält allen gesellschaftlichen Widerständen - fast - ein ganzes Leben lang. Julian Barnes wird mit diesem Roman seinem Ruf als fein- und tiefsinniger Chronist alles Englischen gerecht. "Die einzige Geschichte" erzählt nicht nur von der einen wahren Liebe, die es für jeden Menschen im Leben gibt, sondern legt auch das komplizierte Verhältnis seiner emotional eher zugeknöpften Landsleute zu jeder Form von Leidenschaft dar.

Julian Barnes: "Die einzige Geschichte", übersetzt von Gertraude Krueger, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 304 Seiten, 22,70 Euro

Das jüngste Buch der Nobelpreisträgerin

Ein komplexes Geflecht ist dieser historische Roman, der im 18. Jahrhundert spielt und die schwer zu fassende Figur des Jakob Frank zum Helden hat. Dieser Sektengründer aus Podolien gibt sich zur Zeit der Aufklärung messianisch. Seriell konvertiert er vom Judentum zum Islam, schließlich zum Katholizismus. Mit diesem Blender und seinen Jüngern durchstreift der Leser von einem Schtetl in Osteuropa aus in sieben gelehrten Büchern eine Reihe von Ländern, er quert das Osmanische Reich und die Monarchie der Habsburger. Ja, auch Wien spielt für Frank eine gewisse Rolle, ehe es weiter gen Westen geht, bis an den Main.

Olga Tokarczuk: „Die Jakobsbücher“, Kampa, 1184 Seiten 42 Euro

Vom Finden der Heimat

Für „Herkunft" hat Sasa Stanisic heuer den Deutschen Buchpreis erhalten, er hätte ihn dafür drei Mal verdient. Es ist ein zutiefst privater Roman, innig, streckenweise fast schlicht in der Erzählweise. Stanisic erzählt von seinen Eltern, die am Vorabend des Bürgerkriegs in Visegrad tanzten. Von seiner Großmama, die immer wusste, wann ihm zu kalt war, und dann mit einem Strickjäckchen zur Stelle war. Über seine Freunde von der Aral-Tankstelle. Über das Dorf seines Großvaters. Über den Nationalismus und die Kleingeistigkeit, damals und jetzt. Und das alles in ganz ungewöhnlichen und doch so naheliegenden Bildern.

Sasa Stanisic: „Herkunft“. Luchterhand Verlag, 368 Seiten, 22,70.

Ein Mann, der sich selbst nicht traut

Ein Wirtssohn erlebt den Selbstmord einer Braut – hat er etwas damit zu tun? Geht er deswegen als Schilehrer nach Kanada? Norbert Gstrein erzählt in „Als ich jung war“ meisterhaft und stilistisch elegant von einem Mann, von dem man nicht weiß, wie weit man ihm (im Erzählen) trauen sollte; einem Mann, der sich selbst nicht traut. Es geht um (männliche) Sexualität und Schuld, auch als Beitrag zur MeToo-Debatte kann man den Roman lesen, sofern man moralische Uneindeutigkeit verträgt. Auch zu viel Eindeutigkeit kann gefährlich sein, weiß Gstrein:„Man musste wissen, dass ,weil‘ ein gefährliches Wort war, vielleicht das gefährlichste Wort überhaupt”.

Norbert Gstrein: „Als ich jung war“. Hanser Verlag, 348 Seiten, 23,70.

Die Schrecken der verlorenen Kindheit

Ein voluminöser Roman. Der Erzähler ist ein Alter Ego des 1956 geborenen Autors. Sein Protagonist wird nicht ein berühmter Schriftsteller wie er selbst, sondern scheitert als Dichter, ist ein einsam sein Tagebuch schreibender Lehrer an der Peripherie von Bukarest. Dieser von surrealen Träumen erfüllte, von Alpträumen geplagte, noch junge Mann nimmt die Leser auf eine fantastische Reise mit – zu den Schrecken der verlorenen Kindheit, in die Tristesse des Alltags. Man erfährt von den Geheimnissen der Levitation und schließlich der Liebe. Die lindert das Apokalyptische an diesem Buch. Ein Solenoid ist übrigens eine zylindrische Metallspule. Hier gibt es riesige davon im Untergrund der Stadt.

Mircea Cârtârescu: „Solenoid“, übersetzt von Ernest Wichner, Zsolnay, 36 Euro

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