Gastkommentar

Wo bleibt Europas Selbstvertrauen?

(c) Peter Kufner
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Ohne eine einheitliche Zukunftsvision hat die EU zuletzt ihren Elan verloren und ist unter dem Deckmantel der Nostalgie Opfer von Passivität und Angst geworden.

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In den vergangenen Jahren sind die üblichen Überlegungen und Vorhersagen zum Jahresende immer düsterer geworden. Dieser Pessimismus ist verständlich: Die Ungleichheit ist in weiten Teilen der Welt stark gestiegen; demokratische Werte wurden ständig untergraben; und die Technologie hat unsere Gesellschaften und Wirtschaften so schnell verändert, dass viele Menschen sich überfordert und unsicher fühlen. Aber wir müssen darauf achten, dass düstere Vorhersagen nicht zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden.

Betrachten wir die EU: Mit dem Rückgang ihres internationalen Einflusses fühlen sich die Europäer zunehmend machtlos, als Individuen, als Nationen und als Block. Ohne eine einheitliche Zukunftsvision hat die EU ihren Elan verloren und ist unter dem Deckmantel der Nostalgie Opfer von Passivität und Angst geworden.

Doch Europa bleibt eine wirtschaftliche Supermacht mit großem diplomatischen Potenzial. Wenn die Europäer dies erkennen und ihr kollektives Selbstvertrauen zurückgewinnen, kann ihre Zukunft positiv sein.

Bitte keine aggressive Rhetorik

Die Aufforderung an die Europäer, „an sich selbst zu glauben“, mag naiv klingen. Aber genau das ist eine Voraussetzung für effektives Handeln. Das bedeutet nicht, dass man eine große föderalistische Plattform anstreben oder unrealistische Versprechungen machen soll, etwa was europäische Streitkräfte betrifft. Im Gegenteil, das Letzte, was die EU braucht, sind noch aggressivere Rhetorik oder unrealistische Projekte. Die Nichteinhaltung solcher Versprechen in der Vergangenheit hat zu dem Gefühl der Hilflosigkeit und des Zynismus beigetragen.

Stattdessen muss die EU konkrete, schrittweise Fortschritte machen, um ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Hier gibt es Grund zur Hoffnung – angefangen bei der neu bestätigten EU-Kommission unter der Leitung von Ursula von der Leyen. Die neue Kommission hat zwar in altbekannter Vollmundigkeit geschwelgt, steht aber auch für ein ungewöhnliches Maß an Realismus. Dies ist nirgendwo deutlicher zu erkennen als daran, dass seit den 1960ern erstmals wieder ein deutscher Kommissionschef bzw. in diesem Fall eine Kommissionschefin gewählt wurde. Die EU tut nicht mehr so, als gäbe es innerhalb des Blocks keine herausragenden Mitglieder. Damit gibt sie zu, dass der einzige Weg, die Dinge in die Tat umzusetzen, darin besteht, die einflussreichsten Mitglieder in die Pflicht zu nehmen.

Darüber hinaus hat die EU ihre Bereitschaft bekundet, das Potenzial verschiedener Kooperationskonfigurationen zur Förderung der politischen Agenda zu prüfen. So gibt es eine wachsende Zustimmung für die Einrichtung eines Europäischen Sicherheitsrats, ein von Frankreich und Deutschland vorgelegter Vorschlag. Dieser soll die europäische Außenpolitik stärken und die Sicherheitskooperation mit Großbritannien nach dem Brexit unterstützen.

Angesichts des überwältigenden Sieges der Konservativen Partei von Premierminister Boris Johnson bei den jüngsten Wahlen wird sich Großbritannien sehr bald neu aufstellen. Johnsons Wahlkampf beruhte auf dem Versprechen, Großbritannien bis 31. Jänner 2020 aus der EU herauszuholen, und die Einhaltung dieser Frist wäre ein gutes Ergebnis. Die endgültige Beendigung der dreieinhalbjährigen Saga wird für mehr strategische Klarheit sorgen.

Eine weitere wichtige Quelle der Unsicherheit könnte auch im nächsten Jahr beseitigt werden: US-Präsident Donald Trump. Vielleicht hat keine Entwicklung mehr dazu beigetragen, die Unsicherheit unter den Europäern zu erhöhen, als Trumps willkürliche Angriffe auf die transatlantischen Beziehungen. Wenn er bei den Präsidentschaftswahlen im November besiegt wird, wird das Verhältnis nicht einfach wieder in den Zustand vor Trump zurückkehren, aber die Berechenbarkeit wird wiederhergestellt und die Europäer werden aufatmen können.

Selbst ein Sieg für Trump wird auch ein gewisses Maß an Klarheit schaffen. Es wird sich zeigen, dass man nicht mehr auf die USA als strategischen Partner zählen kann. Anstatt zu versuchen, Trump auszusitzen, geschweige denn auf ihn zu zählen, würde Europa allein weitergehen.

Ein letzter Grund zur Hoffnung auf positive Perspektiven für Europa im Jahr 2020 ist die wachsende Erkenntnis, welche Bedrohung ein aufstrebendes China für die liberale internationale Ordnung darstellt. Im März bezeichnete die EU China als „systemischen Rivalen“. Beim Treffen der Nato-Führungskräfte in London Anfang Dezember ging die EU noch weiter und räumte ein, dass der Aufstieg Chinas „Herausforderungen mit sich bringt, die wir gemeinsam als Allianz angehen müssen“. Dies weckt die Hoffnung, dass Europa nicht so sehr von dem Versprechen der chinesischen Finanz- und Investitionstätigkeit geblendet wird, dass es seine Werte nicht wahrt und seine langfristigen Interessen nicht schützt.

Europas Herausforderungen – einschließlich der Steuerung der Migration und der Entwicklung einer neuen Afrika-Strategie – mögen gewaltig sein, aber sie sind keineswegs unüberwindbar. Fortschritte erfordern strategische Weitsicht, politischen Willen und effektive Umsetzung. Aber es braucht viel mehr Selbstvertrauen.

Ana de Palacio (*1948) war spanische Außenministerin, später Vizepräsidentin der Weltbank. © Project Syndicate, 2019. Aus dem Englischen von Eva Göllner

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.12.2019)

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