Leitartikel

Mit dem weiten Blick: Ändern, um zu bewahren

In wenigen Monaten hat sich Österreich politisch massiv verändert.
In wenigen Monaten hat sich Österreich politisch massiv verändert. APA/ROLAND SCHLAGER
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In wenigen Monaten hat sich Österreich politisch massiv verändert. Nun bitte auch mit Blick auf das große Ganze.

Distanz hilft. Der Abstand zum Geschehen hilft, es besser zu verstehen, einzuordnen, zu werten. Von der Ferne erkennt man nicht nur die Sterne, sondern auch das Firmament, wie uns die Künstlerin Julie Hayward auch in dieser Ausgabe zeigt.

Österreich hat sich radikal verändert. Wir gingen mit einer Koalitionsregierung aus ÖVP und FPÖ ins Jahr 2019, beenden es mit einer Expertenregierung unter der ersten Bundeskanzlerin und erwarten die Bildung einer Koalition aus ÖVP und Grünen, die zu Jahresbeginn nicht einmal im Nationalrat waren. Ausgelöst wurde dies durch die Veröffentlichung eines bizarren Videos, in dem 2017 in Ibiza heimlich Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus gefilmt wurden, wie sie prahlerisch versprechen, gegen Geld oder mittels Beteiligung bei einem Medium Jobs und Staatsaufträge einzutauschen. Kein Kabarett, keine Satire, keine Netflix-Serie wäre mit einem solchen Drehbuch durchgekommen. Österreich schon.

Andererseits spricht nicht nur der Bundespräsident sinngemäß von einem reinigenden Gewitter. Und in einem Punkt scheint das Land in einem demokratiepolitischen Aggregatzustand angelangt zu sein, den viele Wähler in Europa kennen: Kaum eine Regierung schafft mehr die volle Legislaturperiode, die Mehrheits- und Regierungsbildung wird zu einem langen und schwierigen Prozess.

2017/2018 hatte Sebastian Kurz mangels Alternativen eigentlich nur eine Möglichkeit: eine Regierung mit der FPÖ. Die war inhaltlich nah, ideologisch weiter weg. Aber sozial und persönlich war das Scheitern offenbar absehbar. Nun hat Kurz wieder nur eine Chance: mit den Grünen. Die sind ideologisch weit weg, politisch nicht viel näher, aber sozial und persönlich wohl integerer und verträglicher. Jubel war damals und ist heute nicht angezeigt. Aber wenn die kleine Politik der internationalen ebenso folgt wie der Entwicklung der Weltwirtschaft, heißt das: auf Sicht fahren und jederzeit mit nicht vorhergesehenen Problemen rechnen.

Widerspricht das nicht der These, das große Ganze distanziert im Auge zu haben, sich vom Klein-Klein zu verabschieden? Nein. Denn das türkis-grüne Experiment kann ohnehin nur funktionieren, wenn über die großen Linien Einigkeit besteht: Es muss mehr gegen den Klimawandel und seine Folgen unternommen werden. Der Wirtschaftsstandort darf nicht behindert, sondern muss mittels Investitionen in die Digitalisierung attraktiviert werden. Österreich braucht keine offenen Grenzen für jedermann, sondern kontrollierte Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte.

Klingt nach der Quadratur des Kreises, nennt sich aber eben Politik 2020.
Mitunter müssen Politiker über ihren Schatten springen. Also die moralische Selbstherrlichkeit und die Zuneigung zur eigenen Funktionärsblase vergessen, wenn es um große Notwendigkeiten geht. Ein gutes Beispiel ist Frankreichs Emmanuel Macron, der von links startete und nun echte liberale, weil gesellschaftlich faire Pensionsreformen durchsetzen will, wie die logische Erhöhung des gesetzlichen Antrittsalters. Eine solche Reform hat in Österreich seit Jahrzehnten keiner gewagt.

Dass Macron damit rechnen muss, so die nächste Wahl zu verlieren, unterscheidet ihn von fast allen anderen in Europas Staatskanzleien. Er hat offenbar den Blick von weit oben. So schafft man es eher in die Geschichtsbücher als mit täglicher Umfragenpolitik.

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