Burial

Ein Jahrzehnt Forschergeist

Das Cover von  „Tunes 2011–2019“.
Das Cover von „Tunes 2011–2019“.
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Wie macht man nach einem zentralen Werk der elektronischen Musik weiter? „Tunes 2011–2019“ zeigt den Briten Burial wilder und zugänglicher als gewohnt.

„Excuse me, I'm lost“, sagt eine gesampelte Stimme zu Beginn von „Come Down to Us“, einem jener Songs, die der Brite Burial auf seiner neuen Werkschau „Tunes 2011–2019“ versammelt. Das ist durchaus programmatisch: Seine Musik eignet sich seit jeher nicht nur perfekt, um sich darin zu verlieren. Bisweilen klingen seine geisterhaften, introspektiven und ureigenen Deutungen von britischen Dancefloorstilen von UK Garage bis Dubstep auch danach, verloren zu gehen. Der natürliche Zeitraum seiner beiden ersten, längst kanonischen Alben waren die „wee hours“, wie die Briten jene Stunden zu nennen pflegen, in denen die Nacht langsam zum Tag wird. Wenn man etwa aus dem Club ausgespuckt wird, die Euphorie des Dancefloors weicht, man sich allein wiederfindet. Auf dem Weg heim im „Night Bus“, dem der Südlondoner im gleichnamigen Track Tribut zollte. Oder beim Zeittotschlagen „In McDonalds“, wie ein Stück seines zweiten Albums, „Untrue“, heißt.

Echos der britischen Rave-Ära

2007 erschienen, gilt es bis heute als eines der wichtigsten Alben elektronischer Musik seit der Jahrtausendwende. Die Songs darauf klangen, als wäre ihnen eingeschrieben, dass die Verheißungen des Clubs als hierarchiefreier Raum, in dem alle gleich sind, in der Realität kaum Bestand haben. Nicht nur seine Tracks erinnerten an ferne Echos der britischen Rave-Ära der 1990er-Jahre. Auch sein Selbstverständnis als Künstler wurzelt in dieser Phase, als DJs und Produzenten bewusst anonym blieben. Selbst als „Untrue“ für den renommierten Mercury Price nominiert war, blieb Burial ein Mysterium. Seinen bürgerlichen Namen, William Bevan, enthüllte er erst, als ihm der britische Boulevard auf den Fersen war.

Der Einfluss von „Untrue“ war nachhaltig: Seine übernächtige Emotionalität hallte in der Musik von The XX, James Blake oder The Weeknd nach. Auf ein Nachfolgealbum wartete man bislang vergeblich. Die Singles und EPs, die Burial stattdessen veröffentlichte, bündelt er nun auf „Tunes 2011-2019“ zum gut 150 Minuten langen Ritt durch sein Œuvre der letzten Dekade.

Wobei der Start behutsam ist. Wenn der erste zaghafte Beat einsetzt, hat man bereits 25 Minuten Schwellen und Dröhnen hinter sich: meditativ, ja, aber nicht die interessanteste Ausweitung seiner Musik. Spannender wird es, wenn er sein Pop-Faible vertieft. Etwa beim erwähnten „Come Down to Us“, einer aus sinnlichem Rauschen aufsteigenden, sentimental tönenden Elektropop-Ballade über genderfluide Identitäten und Selbstakzeptanz. Mitsamt prägnantem Sitar-Riff. Auch andere Stücke wechseln mehrfach die Form. „Truant“ etwa beginnt mit prototypischer Früh-Morgen-Stimmung, bevor Synth-Fanfaren den Song ab der Hälfte warm ausleuchten. Das großartige „Rival Dealer“ beginnt als Techno-Rausch, kommt zum Erliegen, nimmt mit neuem Rhythmus wieder Fahrt auf, nur um die letzten Minuten ohne Beat zu schweben.

War „Untrue“ in sich maximal konsistent, so nutzte Burial losgelöst vom Albumformat alle ästhetischen Freiheiten, wurde gleichzeitig ruhiger und wilder, experimenteller und zugänglicher. Die Stücke können trösten und verschrecken, wirken bald intim, bald distanziert. Das macht „Tunes 2011–2019“ zum eindrucksvollen Dokument eines Visionärs, der die Verästelungen der Dance Music genauso erforscht wie jene der Gefühle. Das wie gewohnt manipulierte, sich wiederholende Gesangssample in „Young Death“ wirkt daher beinahe wie ein Versprechen: „I will always be there for you.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2019)

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