Pressestimmen zu Türkis-Grün

Vorbildkoalition mit einer Portion Unkalkulierbarkeit

(c) Peter Kufner
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Österreichs türkis-grüne Regierung weckt bei manchen Kommentatoren große Erwartungen, stößt aber auch auf Bedenken.

„Die Welt“

Progressives Projekt

Berlin. „In Österreich passiert etwas, wovon viele deutsche Bürger nur zu träumen wagen: ein Aufbruch in eine neue politische Ära, gestaltet von zwei proeuropäischen Parteien, die als klare Sieger aus der jüngsten Wahl hervorgegangen sind. Anders als bei uns, wo zwei taumelnde Wahlverlierer sich aus Angst in der Großen Koalition aneinanderklammern, wagen in Österreich Konservative und Grüne ein progressives Projekt. Sie testen, ob ein Bündnis, das dem politischen Zeitgeist entspricht, auch regierungsfähig ist.“

„Salzburger Nachrichten“

Skepsis und Furcht

Salzburg. „Von allen Seiten ist derzeit zu hören, wie schrecklich die neue Regierung sein wird. Von rechts heißt es, die ÖVP sei drauf und dran, ihre Seele an die Grünen zu verkaufen und mit einem neuen Linkskurs ins Verderben zu rennen. Und von links hört man spiegelbildlich genau die gleiche Kritik an den Grünen. In den diversen Foren ist Skepsis, mitunter Furcht vor der neuen Regierung zu spüren. (. . .) Koalitionen von Mitte-rechts-Parteien und Grünen hat es in Europa bisher nur ganz wenige gegeben, und sie waren selten erfolgreich. Wollen Sebastian Kurz und Werner Kogler erfolgreicher sein, müssen sie ihr Projekt zum Schillern bringen. Sonst läuft Türkis-Grün Gefahr, das gleiche Schicksal zu erleiden wie die Große Koalition: SPÖ und ÖVP saßen zuletzt nur noch deshalb gemeinsam in der Regierung, um einander am Regieren zu hindern.“

„Der Standard“

Irritierende Besetzung

Wien. „Auffallend ist, dass die ÖVP auf Sicherheit setzt. Das soll offenbar die FPÖ-Wähler, die zu Kurz gewechselt sind, beruhigen. Beunruhigend ist, dass damit wieder alle Nachrichtendienste in der Hand einer einzigen Partei sind. Und eine kolportierte Personalbesetzung löst Irritation aus: Der ÖVP-Generalsekretär, ein gelernter Parteisoldat, soll Innenminister werden. Seine herausragendste Eigenschaft ist die Loyalität gegenüber Partei und Parteichef. Gerade im Innenressort, in dem so viele heikle Ermittlungen auch in politischen Causen zusammenlaufen, hätte man sich eine vom Parteigehorsam emanzipierte Person erhofft. Das ist wohl einer der Kompromisse, die die Grünen am meisten schmerzen.“

„Frankfurter Allgemeine“

Brisante Fragen

Frankfurt. „Taugt Schwarz-Grün, wie man in Deutschland sagen würde, als Vorbild? Wird das Bündnis dieser unterschiedlichen, in manchen Fragen entgegengesetzten Partner stabil und zu gestaltender Politik in der Lage sein? Bringt es eine funktionierende Wirtschaft aus dem Tritt, oder setzt es neue Impulse? Welchen Kurs wird es im Fall einer neuen Migrationswelle fahren? Kosten die unvermeidlichen Kompromisse die beiden Parteien übermäßig viel Zustimmung in den eigenen Lagern, stürzen sie in Umfragetiefs, werden sie in Regionalwahlen abgestraft? Das sind Fragen, die auch ein noch so schöner Koalitionsvertrag nicht wird beantworten können, sondern nur die Regierungspraxis. Man darf gespannt sein.“

„Kleine Zeitung“

Warten auf die Inhalte

Graz. „Was von dem türkis-grünen Schulterschluss zu halten ist, lässt sich zum heutigen Zeitpunkt schwer sagen. Solang nicht der Koalitionspakt, die Inhalte auf dem Tisch liegen, gleicht jede Analyse der Lektüre des Kaffeesatzes. (. . .) Von Türkis-Grün darf man einen neuen Blick auf die Herausforderungen erwarten, die viel beschworene Versöhnung – welch abgedroschene Formulierung – von Ökologie und Ökonomie, einen ernsthaften, unaufgeregten Umgang mit allen Aspekten der Globalisierung (Jobs, Migration, Wirtschaftsstandort, Finanzierung unseres Lebensmodells, Angst des Mittelstands vor sozialem Abstieg). Ob mit Türkis-Grün jedoch die Spaltung Österreichs überwunden wird, ist nicht sicher.“

„Kronen Zeitung“

Eine Arbeitsregierung

Wien. „Sebastian Kurz ist kein Politiker, der in großen historischen Linien denkt. Er verfügt aber über ein besonderes Gespür für Entwicklungen. (. . .) Die Flüchtlingsfrage mag Kurz mehr interessieren als das Öko-Thema, das einigen seiner Freunde in der Wirtschaft gehörig gegen den Strich geht. Auch sind die inhaltlich getriebenen Grünen ein anspruchsvollerer Koalitionspartner als die Ibiza-Blödel. Der Verlust an Komfort ist der Preis, den Kurz für die Macht zahlen muss. Aber das ist es im Sinn einer besseren Zukunft wert. (. . .) Türkis-Grün wird eine von Sachdebatten geprägte Arbeitsregierung. Aber mit Türkis-Blau hätten wir uns ohnehin lang genug unter unserem Niveau amüsiert.“

„Tiroler Tageszeitung“

Zahlreiche Bruchstellen

Innsbruck. „Vom früheren SPÖ-Verteidigungsminister Gerald Klug ist wenig in Erinnerung. Nur ein Wort von ihm hat sich hierzulande in den Sprachgebrauch eingeschrieben: situationselastisch. Jetzt dürfte dieses Wort wieder in Verwendung kommen. ÖVP und Grüne gehen mit ihrem Pakt ein großes Wagnis ein. Sie haben einen grundverschiedenen Politik-Ansatz, standen sich oft diametral gegenüber. Nun wollen sie regieren. Gemeinsam. Trotz tragfähiger Brücken und provisorischer Übergänge, die in den vergangenen Wochen errichtet worden sind, wissen beide um die möglichen Bruchstellen aufgrund ihrer je eigenen gesellschaftspolitischen Entwürfe. Drohen diese Bruchstellen zur Gefahr zu werden, bedarf es einer kreativen Herangehensweise. Situationselastisch dürften Werner Kogler und Sebastian Kurz dabei agieren.“

„Il Messagero“

Immer ein bisschen rot

Rom. „Sebastian Kurz hat erfolgreich den schwierigen Wechsel von einer Mitte-rechts-Regierung, mit einem Koalitionspartner der Marke Visegrád und Anti-Migration, zu einer Regierung mit den Grünen geschafft, die den Positionen von Greta Thunberg nahestehen. Die österreichische Umweltpartei ist nicht nur grün, sondern war immer schon ein bisschen rot und könnte angesichts der tiefen Krise der SPÖ sogar zu einer neuen sozialdemokratischen Kraft werden. ,Österreich ist die kleine Welt, in der die große ihre Probe hält‘, sagte Friedrich Hebbel im 19. Jahrhundert. Dieses Zitat könnte wieder Aktualität bekommen. In Deutschland, wo die SPD schon seit längerer Zeit um das Überleben ringt, ist eine neue Regierung aus Unionsparteien und Grünen, die in den Umfragen obenauf ist, keine unwahrscheinliche Variante mehr.“

„OÖ Nachrichten“

Keine Narrenfreiheit

Linz. „Ein Portion Unkalkulierbarkeit ist immer dabei, wenn Grüne sich zu einem Parteitag treffen. Basisdemokratie gehört zur DNA der Ökopartei und wird entsprechend gelebt. Nicht umsonst hat Werner Kogler noch in der Nacht auf Sonntag in einem Schreiben an alle Delegierten um Augenmaß beziehungsweise Verständnis ersucht, dass im Regierungsprogramm auch Punkte geschluckt werden müssen, die der grünen Seele vermutlich wehtun. Eine 14-Prozent-Partei kann in einer Koalition Leuchttürme setzen, Narrenfreiheit kann sie nicht beanspruchen. Am Ende aber wäre alles andere als ein Ja zum Pakt eine Sensation.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.12.2019)

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