Gastkommentar

Zehner und Sechziger: Scheitern und Aufbruch

(c) Peter Kufner
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Seit Jahrhunderten sind die 10er-Jahre das Gegenmodell zu den 60er-Jahren: Zeiten des Umbruchs und der Zerstörung.

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Wir stehen am Ende eines bisher namenlosen Jahrzehnts: Die 2010er können nicht wirklich über sich selbst sprechen. Während der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts der Name „Nullerjahre“ gegeben wurde, wären sicherlich nur wenige damit einverstanden, das vergangene Jahrzehnt – im Englischen – „Teens“ zu nennen. Vor 100 Jahren musste man sich über eine solche Kategorisierung keine Gedanken machen: Die 1910er waren einfach die Zeit des Großen Kriegs.

Aber unsere semantische Unsicherheit im englischsprachigen Raum spiegelt ein tieferes Problem mit Analyse und Wahrheit wider: Die menschliche Zivilisation bevorzugt eine dezimal geordnete Zeitvorstellung, und die Sprache bietet Begriffe, um die Stimmung der jeweiligen Generation zu erfassen. Rückblickend wecken die „Zwanziger“, „Dreißiger“, „Vierziger“, „Fünfziger“, „Sechziger“, „Siebziger“, „Achtziger“ und „Neunziger“ allesamt mächtige Assoziationen. Die „Sechziger“ erinnern sofort an Optimismus, Jugendrevolte, das Versprechen einer beginnenden Globalisierung und die Idee der „einen Welt“. Wir lernen daraus, dass eine Dekade, um einen bestimmten Geist widerzuspiegeln, mit einer Wirklichkeit in Verbindung stehen muss, die auf klare und wahrhaftige Weise beschrieben werden kann.

Die 1960er- und 1860er-Jahre

Seltsamerweise haben die 1960er eine starke Verbindung zu den 1860ern. Von Giuseppe Verdi und Richard Wagner bis zu den Beatles und den Rolling Stones standen beide Jahrzehnte für bahnbrechende Musik. Und die Dampfschifffahrt auf dem Meer war ebenso revolutionär wie das Passagierflugzeug ein Jahrhundert später. In den USA gab es in beiden Jahrzehnten blutige Konflikte. Sowohl durch den Bürgerkrieg (1861–1865) als auch durch den Vietnamkrieg (1955–1975) wurden die nationalen Ideale neu bestimmt. Sogar die profane Geschichte der Geldpolitik bietet bemerkenswerte Parallelen: Ebenso wie unter Kaiser Napoleon III. setzte sich Frankreich auch unter Präsident Charles de Gaulle für eine europäische Währung ein, um weltweit die geldpolitischen Beziehungen zu verändern.

Ein halbes Jahrhundert vor den jeweiligen Sechzigern war die Lage hingegen trist: Sowohl die 1810er als auch die 1910er waren Zeiten gescheiterter Hoffnungen und verlorener Illusionen. Große Visionen der Veränderung – wie jene von Napoleon I. in Frankreich, Zar Alexander in Russland oder Präsident Woodrow Wilson in den USA – prallten auf die Realitäten nationaler Projekte, sozialer Konflikte und wirtschaftlicher Schocks (nicht zuletzt aufgrund der deflationären Nachkriegsperiode).

Napoleon, Alexander und Wilson wünschten sich eine durch rationale Gesetze regierte und befriedete Welt. Und alle drei wurden schnell verhöhnt und verspottet. Während Napoleon als Schreckgespenst und Alexander als teuflischer Reaktionär verunglimpft wurden, wurde Wilson als presbyterianischer Prediger verhöhnt, der es mit den überlegenen europäischen Vertretern der sogenannten Realpolitik nicht aufnehmen konnte.

Auch die 2010er begannen mit großen rhetorischen Versprechen und heldenhaften politischen Charakteren, die Hoffnung verbreiteten: Am 4. Juni 2009 bot US-Präsident Barack Obama die beste seiner berühmten rhetorischen Aufführungen: In seiner Kairoer Rede vom „Neuanfang“ bestand er darauf, „dass Amerika und der Islam sich nicht ausschließen und nichtmiteinander konkurrieren müssen. Stattdessen überschneiden sie sich und teilen gemeinsame Prinzipien – Prinzipien der Gerechtigkeit und des Fortschritts, der Toleranz und der Würde aller Menschen.“

Dieses Argument lief aber ins Leere. Den Anschein der Hoffnung hat Obama meisterhaft beschworen, aber nicht ihre Umsetzung in die Realität. Der Arabische Frühling endete in bitterer Desillusionierung durch Repressionen, Bürgerkrieg, Elend und Tod.

Wirtschaftliche Ernüchterung

Wie so oft hatte die politische Ernüchterung auch ein wirtschaftliches Gegenstück. Aber die hartnäckige Deflation der 2010er war anders als die großen deflationären Perioden nach den napoleonischen Kriegen und dem Ersten Weltkrieg: Die makroökonomischen Bedingungen der 2010er entstammten keinem gezielten Versuch, die Kriegsfinanzen durch Haushaltsstabilität zu ersetzen. Stattdessen wurde der Deflationsdruck durch die Globalisierung und den technologischen Wandel angetrieben. Darüber hinaus interpretierte die Öffentlichkeit ökonomische Schwäche als Symptom politischer Fehler und schlechter Verwaltung während und nach der Finanzkrise von 2008.

Historisch gesehen neigten Zeiten stetiger Inflation dazu, die Erfüllung von Versprechen zu verheißen, während Disinflation und Deflation alles gleichzeitig billiger und unerschwinglich wirken ließen. Kommt eine Inflation zu ihrem Ende, wirkt die Gesellschaft wie Tantalus, der verzweifelt nach etwas greift, was sich außer Reichweite befindet (im Fall der Zentralbanken war dieses „Etwas“ die Inflation selbst).

Wieder lag Obama falsch

Trotzdem setzte Obama in einer Festansprache von 2013 weiterhin auf Hoffnung: „Die Zyniker mögen zwar die lautesten Stimmen haben, aber ich verspreche euch, sie werden am wenigsten erreichen.“ Leider lag er wieder falsch. Zynismus ist die unvermeidliche Antwort auf eine Periode zu vieler Versprechen und zu weniger Umsetzungen. Wenn er sich festsetzt, schafft er die Bedingungen für eine „Politik jenseits der Wahrheit“.

Kein US-Präsident des 19. Jahrhunderts konnte es, was die vielen Lügen angeht, mit Donald Trump aufnehmen – einfach deshalb, weil es damals kein Twitter oder Ähnliches gab. Laut einer Zählung der Washington Post hat Obamas Nachfolger seit seinem Amtsantritt über 15.000 „falsche oder irreführende Aussagen“ gemacht.

Amerikas Versprechen ist, ein Land der gleichen Chancen zu sein. Aber was die sozioökonomische Mobilität betrifft, hinkt es heute hinter anderen Industriestaaten her. Europas Versprechen besteht in Toleranz und gemeinsamen Werten. Aber diese Eigenschaften wurden von Wellen der Migration und anderen Globalisierungskräften überwältigt.

Erholung wird lang dauern

In den 2010ern wurde das Versprechen einer globalen, auf Regeln beruhenden Ordnung gebrochen. Diese Übereinkunft aus der Zeit nach 1945 unterliegt nun einem Tauziehen zwischen Ländern, die sich selbst als traditionelle Supermächte sehen. Sie haben nicht nur militärische Macht, sondern auch ihre ganz eigenen Ideen.

Seit Jahrhunderten sind die „Zehner“ das Gegenmodell zu den „Sechzigern“. Sie waren Zeiten, in denen die „Kühnheit der Hoffnung“ hinter Verzweiflung und Falschheit verschwand. Als solche waren sie Zeiten des Umbruchs und der Zerstörung. Die Erholung davon wird lang dauern. Und nur wenige von uns werden das Privileg haben, die 2060er zu erleben.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Copyright: Project Syndicate, 2019.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor:

Harold James (* 1956 in Bedford) studierte in Cambridge Wirtschaftsgeschichte. Seit 1986 lehrt er als Professor in Princeton Geschichte und Internationale Politik und ist Senior Fellow am kanadischen Center for International Governance Innovation. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt Mitautor der Studie „The Euro and the Battle for ideas“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2020)

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