Buchvorstellung

Neues Buch von Jess Kidds: Gute Geister, böse Menschen

Gespenster zu sehen gilt bei Jess Kidd als Auszeichnung. In ihrem neuen Roman tut das halb London.
Gespenster zu sehen gilt bei Jess Kidd als Auszeichnung. In ihrem neuen Roman tut das halb London. (c) Travis McBride
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Pfeiferauchend, temperamentvoll, irisch – das ist Jess Kidds neue Antiheldin Bridie Devine. Ein unerwünschter Geist steht ihr in „Die Ewigkeit in einem Glas“ zur Seite.

Halb London sieht Gespenster. Es ist die Zeit der Aberglauben und der Bluffs, der Kuriositätenkabinette und Sammler. Und der Serienmörder.
Es ist das Jahr 1863 und Privatdetektivin Bridie Devine hat viel zu tun. Sie wird von Scotland Yard diskret mit den mysteriösen, bizarren Fällen im Bodensatz der Gesellschaft betraut. Mit Leichen, Brutalität, Schmutz und Gestank kommt die trinkfeste, irische Ermittlerin mit den wilden roten Locken und dem Hang zu scheußlichem Tabak gut zurecht – schließlich hat sie als Waisenkind als Leichensammlerin gearbeitet. Aber ein Geist? Und dann noch ein Geist von der treuherzigen Sorte wie dieser tote Preisboxer Ruby Doyle, der ihr seit dem Friedhofsbesuch nicht von der Seite weicht? Der auch noch schwört, dass man sich von früher kenne? Sie habe gerade kein Interesse an einer Heimsuchung, sie müsse ein gekidnapptes Mädchen retten, teilt Bridie ihm mit. Außerdem glaube sie – anders als halb London eben – nicht an Gespenster.

Wer Jess Kidds frühere Romane kennt, entdeckt viel Vertrautes in „Die Ewigkeit in einem Glas“: trockenen britischen Humor gepaart mit exzentrischem Personal, einer Liebe zu allem Irischen (die Londoner Autorin verbrachte ihre Kindheit an der westirischen Küste) und düster-skurrilen Kulissen. Nur macht Kidd, die schon bisher schwer kategorisierbare Mischungen aus Krimi- und Schauerromanen schrieb, diesmal einen Seitschritt ins historische Genre. Ihr dritter Roman wechselt ins viktorianische London. Hier, an der Schwelle zwischen Aberglauben und Aufklärung, zwischen Jack the Ripper und Samuel Coleridge, war sie allerdings stimmungsmäßig bereits verwurzelt, als ihr mit ihrem Debüt „Der Freund der Toten“ 2016 der Durchbruch gelang.

Mysteriöse Entführung. Wer Kidds Geschichten kennt, weiß auch: Gespenster zu sehen gilt bei ihr als Auszeichnung, und das Böse lagert tendenziell außerhalb der Fabelwelt. Bridie wird sich an ihren durchscheinenden Begleiter Ruby gewöhnen. Gemeinsam versuchen sie, den Fall der entführten Christabel zu lösen. Das kleine Mädchen wurde nachts vom Anwesen ihres Vaters, Sir Edmund, gekidnappt. Das Personal weiß offenbar mehr, als es sagt. Der Vater ist nervös, der Hausarzt ist überaus windig, und die Mutter der Entführten ist schon vor Jahren im Zierteich ertrunken.

Je länger sie ermittelt, desto mehr wird Bridie bewusst: Christabel war kein normales Kind. Sie hat etwas, für das andere morden. Rätselhafte Ereignisse mehren sich – die Themse flutet London, Schnecken ziehen in Scharen die Hauswände entlang. Auch die Mordrate steigt. Kidd ist dabei nicht zimperlich: Hutschachteln mit Köpfen werden versendet, Menschen werden erpresst, geprügelt, vergewaltigt. Und falsche Chirurgen sagen Sätze wie: „Die Wahrheit ist: Ich wollte in sie hineinschauen.“

Die britische Autorin führt die Fäden in ihrem bunten, stinkenden, brutalen London langsam zusammen. Angesichts der Leichtigkeit, mit der sie diese Fantasiewelt baut, verzeiht man ihr, dass man das eine oder andere Versatzstück der Geschichte anderswo schon gesehen oder gelesen hat. Der trocken-ironische Stil rettet vor Untiefen. Es ist ein bisschen wie in einem gut gemachten Spiegelkabinett: Die Bauteile sind bekannt, durch das Labyrinth aber trägt Kidds Erzählkunst.

Reales Böse im Fantastischen. Geschickt blendet die Handlung immer wieder in Bridies Kindheit zurück. Irgendwo dort liegen die Antworten: Woher kennt sie ihren Geist? Wer ist für die Morde verantwortlich? Und täuscht sie nicht die eigene Erinnerung? Die beste Ermittlerin kann sich irren, wenn sie unbedingt den Bösewicht fassen will, den sie verdächtigt. „Die Ewigkeit in einem Glas“ funktioniert wie die vielen Märchen, die die – lebenden wie toten – Protagonisten erzählen: So überladen und erfunden das wirken mag, im Kern findet sich ein Stück Wahrheit. Am Ende ist das wohl die eigentliche Leistung von Kidds Geisterstunde: das reale Böse mitten im Fantastischen abzubilden.

Neu erschienen

Jess Kidd
„Die Ewigkeit in einem Glas“

Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Dumont Buchverlag
400 Seiten
22,70 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2020)

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