20er-Jahre

Ein kurzer Tanz in die Freiheit

Das Selbstvertrauen der Frauen stärkte sich in den 1920er-Jahren radikal.
Das Selbstvertrauen der Frauen stärkte sich in den 1920er-Jahren radikal.Das Selbstvertrauen der Frauen stärkte sich in den 1920er-Jahren radikal. (c) Roger Viollet via Getty Images (Albert Harlingue)
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Die 1920er-Jahre brachten eine gesellschaftliche Revolution. Hundert Jahre danach ist einiges noch immer nicht abgeschlossen wie die Emanzipation der Frau, einiges geblieben wie der Jazz und manches wieder gefährdet – wie die Liberalität.

Ist es möglich, dass sich in nur einem Jahrzehnt fast alles ändert, die Welt auf den Kopf gestellt wird – Staat, Gesellschaftsordnung, Mode, Musik, Literatur? Die 1920er-Jahre haben es bewiesen. Ein Zusammenwirken aus dem Ende des Ersten Weltkriegs, dem Zusammenbruch der Monarchie und einer über Jahre hinweg in ihrer Entwicklung gehemmten jungen Generation trug zu dieser Neuorientierung bei. Es war eine Explosion des Aufbruchs und der Befreiung – völlig überbordend, manchmal radikal, aber vor allem kreativ.

Diese Entwicklung vor hundert Jahren ist mit den beginnenden Zwanzigerjahren dieses Jahrhunderts nicht vergleichbar. Zu unterschiedlich sind die Rahmenbedingungen. Doch die Geschichte der 1920er-Jahre lehrt noch heute, wie sich Entwicklungen rasch wieder umkehren, wie Aufbrüche und Hoffnungen von einer wachsenden Gegenströmung erfasst, eingebremst und ins Gegenteil verkehrt werden können.

In Berlin und Wien boomten schon wenige Jahre nach Kriegsende gut besuchte Tanzbars, Modegeschäfte und Autosalons. In der Musik, im Film, Theater, Kunstgewerbe und der Architektur wurden neue Maßstäbe gesetzt. Es wurde ausgiebig gefeiert und – von jenen, die es sich leisten konnten – auch reichlich konsumiert. Doch ein anderer Teil der Bevölkerung konnte daran nur wenig teilhaben. Gaben die einen angesichts einer dramatischen Geldentwertung ihr schrumpfendes Vermögen noch rasch aus, fristeten die anderen ein Dasein am Existenzminimum. Diese Kluft war nicht das einzige Spannungselement der Periode. Es standen sich ähnlich wie heute Traditionalisten und Modernisierer, Nationalisten und Verfechter einer international vernetzen Welt gegenüber.

Zuerst aber gab es reichlich Kraftstoff für eine der radikalsten Kulturbewegungen der europäischen Zeitgeschichte. Die Umbrüche ab 1920 entsprangen vorwiegend einer jungen Generation des Bürgertums. Sie entwickelte einen starken Willen, traditionelle Gesellschaftsordnungen und den verstaubten Historismus zu überwinden. Die Leitbilder der Elterngeneration wurden abgestreift, wie die hoch geschlossenen Kleider, die engen Mieder, steifen Stehkrägen und opulenten Hüte. Das allgegenwärtige Grau der Kriegstage wich neuen farbigen Kontrasten. Hier gibt es übrigens eine Parallele: Denn auch zum anstehenden Jahrzehntewechsel werden weite Kleidungsstücke wieder modern – die Freude an einer klaren Farbsprache und Kontrasten wiederentdeckt.

In den 1920er-Jahren war es nicht nur der kreative Geist, sondern auch der Körper, der sich aus Zwängen zu befreien versuchte, die über Jahrhunderte von Autoritäten der Monarchie und der Kirche aufoktroyiert worden waren. Sexuelle Tabus und strenge Konventionen wurden aufgelöst. Das Althergebrachte im Zusammenleben der Geschlechter beiseitegeschoben. Die wiedererwachte Lebenslust war Triebfeder eines neuen kreativen Stils, der von Sachlichkeit, Spaß und veränderten Schönheitsidealen geprägt war.

Eine neue Körperkultur etablierte sich. Auch das war Befreiung. Sport wurde Teil des Gesellschaftslebens. In Turn- und diversen Sportvereinen wurde gemeinsam ein gesünderes Leben praktiziert. Dazu passend entwickelten sich neue Trends in der Sportbekleidung, die weit weniger brav, dafür figurbetonter und sexy sein durfte.

Ein zentrales Element dieser gesellschaftlichen Revolution war der Jazz, der in Paris, Wien, Berlin und vielen weiteren europäischen Städten ab Beginn der 1920er-Jahre zur dominierenden Begleitmusik des Wandels wurde. Der Feuilletonist des „Prager Tagblatts“, Karl Tschuppik, schrieb 1922 über den Jazz, er sei Symbol für eine „zu neuem Lebenswillen erwachte Welt“. Mit der aus den USA importierten Musikrichtung wurde das Korsett festgeschriebener Kompositionen aufgelöst, die Improvisation kultiviert und der Rhythmus zum lebensbejahenden Elixier erhoben. Mit der von traditionellen Regeln befreiten Musik änderte sich auch der Tanz. Statt in enger, geschlossener Haltung mit streng vorgegebenen Schritten schwangen Frauen und Männer ihren Körper rhythmisch und frei zum Shimmy.

Was für eine Revolution insbesondere für Frauen: Sie waren nicht mehr auf Partner angewiesen, die sie ausführten und teilhaben ließen. Sie übernahmen selbst die Regie ihres Gesellschaftslebens. Ein wesentliche Ursache dafür war, dass der Erste Weltkrieg mit seiner großen Zahl gefallener Soldaten die Geschlechterbalance verändert hatte. Nun übernahmen Frauen Berufe, die zuvor Männern vorbehalten waren. Sie zogen als Beamtinnen in die Ministerien, als Schaffnerinnen in die Straßenbahn und ließen sich zu Ärztinnen, Architektinnen oder Wissenschaftlerinnen ausbilden.

»"Es ist die Zeit für kurze Röcke, freien Hals, lose Taille und
Bubikopf."«

Marianne Pollak. Die Redakteurin der „Arbeiterzeitung“ schrieb 1926 über das neue Bild der Frau.

Mode und Wahlrecht. Die 1920er-Jahren brachten einen Schub an Gleichberechtigung und Selbstvertrauen für eine neue Generation von Frauen, die sich gleich auch von den engen Vorgaben ihrer Eltern für Kleidung und Frisur befreiten. „Es ist die Zeit für kurze Röcke, freien Hals, lose Taille und Bubikopf“, beschrieb Marianne Pollak 1926 in der „Arbeiter-Zeitung“ den neuen Trend. In den jungen Demokratien Mitteleuropas durften Frauen erstmals wählen und beteiligten sich – vorerst in kleiner Zahl – sogar selbst an der Politik. Noch waren es wenige: Gerade einmal acht weibliche Abgeordnete (von insgesamt 208) zogen im März 1919 in den österreichischen Nationalrat ein. Im Vergleich: Hundert Jahre später sind es 72 Frauen (von insgesamt 183) – allerdings noch immer weniger als Männer. Die vor einem Jahrhundert eingeleitete Emanzipation ist noch nicht abgeschlossen.

Doch zurück in die 1920er-Jahre: Die verunsicherten Anhänger der Monarchie und Teile des konservativen Bürgertums erbosten sich zwar über die Abkehr von ihren Idealen, konnten der Welle des Aufbruchs aber vorerst nichts entgegensetzen. In den Kaffeehäusern der Innenstadt saßen zigarettenrauchende Frauen mit neuartigen Hüten in Glockenform. Statt der Oper wurden Jazz-Operetten und Revuen besucht, statt klassischer Konzerte Auftritte von US-Bands. Das bürgerliche Weltblatt „Neue Freie Presse“ beschrieb die umjubelte Tournee einer dieser Bands, der Ross Brothers, als „eigenartige musikalische Neuheit“.

Josephine Baker. Die neue Welle wurde von den Medien vorerst neugierig begleitet, später jedoch immer öfter kritisiert. Als 1927 die moderne Oper „Johnny spielt auf“ von Ernst Krenek, in deren Mittelpunkt ein afroamerikanischer Jazzmusiker steht, erstmals in Wien aufgeführt wurde, brach unter den Musikkritikern ein veritabler Opernkrieg aus. Die einen waren begeistert, die anderen verurteilten die Aufführung als „Negerkultur“.

Die Linke kritisierte das Stück als allzu amerikanisch und bürgerlich, die Rechte als dekadent und kulturlos. Auch die afroamerikanische US-Sängerin, Schauspielerin und Tänzerin Josephine Baker löste eine Debatte über den kulturellen Wert der neuen Unterhaltungskultur aus. Baker trat in Paris, Berlin, Prag, Budapest und Wien auf, sorgte mit extravaganten Kostümen und freiem Busen sowohl für Begeisterung als auch für Irritationen. Als sie 1928 für einen Abend am Ronacher-Theater spielen sollte, wurde das zum Politikum. Sogar das Parlament debattierte über ihr Gastspiel. Letztlich musste Bakers Auftritt abgesagt werden, denn das Ronacher erhielt keine Bewilligung für die Show.

Der Wille zu Kreativität und Aufbruch spiegelte sich auch in den Filmproduktionen wider. 1922 fand die Uraufführung des Monumentalfilms „Sodom und Gomorrha“ statt. Die Produzenten schreckten nicht vor riesigen am Laaer Berg bei Wien erbauten Kulissen und Tausenden Komparsen zurück. Es war ein kulturelles Kuriosum: Obwohl Österreich auf der Landkarte von einem Großreich zu einer kleinen Alpenrepublik zusammengeschrumpft war, agierten die Kreativen des Landes in neuen grenzenlosen Dimensionen.

Auch das nach dem Krieg wieder aufgeblühte Kunstgewerbe errang bald Weltruf. Rund 220 heimische Aussteller beteiligten sich 1925 an der Internationalen Kunstgewerbeausstellung in Paris. In Deutschland sorgte die Bauhaus-Bewegung für ein ähnliches grenzüberschreitendes Erwachen in Architektur und Gestaltung.

Die Idee, Kunst und Funktionalität zu verbinden und alltagstauglich zu machen, löste die elitären Vorstellungen von Kunstgenuss ab.
Mehr Internationalität, mehr Weiblichkeit, mehr Freiheit fanden rund um den Wechsel des Jahrzehnts langsam ihr Ende. In Deutschland und Österreich wurden politische Kräfte stärker, die genau das Gegenteil dieser liberalen Ideen propagierten: Nationalismus statt internationale Offenheit, Männlichkeit statt Emanzipation, traditionelle völkische Musik statt Jazz. Nach und nach begann die Diffamierung aller Vertreter dieser modernen Kultur und Lebensweise.

„Entartete Kunst“. Eine überbordende Welle wurde von der nächsten eingeholt und in den Abgrund gerissen. Heute mag die Liberalität in der gesellschaftlichen Kultur zwar ebenfalls gefährdet sein, allerdings in völlig anderen Dimensionen. Wie weit dies vor hundert Jahren führte, belegt die zunehmende politische Einmischung. In Österreich wurde von der Regierung unter Ignaz Seipel Ende der 1920er-Jahre eine Verschärfung des „Schmutz-und-Schund-Gesetzes“ eingeleitet, um die moderne Literatur und Kunst einzudämmen. In Deutschland bewirkte 1930 der NS-Volksbildungsminister Thüringens, Wilhelm Frick, einen Erlass „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“. Was wenige Jahre zuvor internationale Anerkennung fand, wurde ab 1937 in der Ausstellung „Entartete Kunst“ von staatlichen NS-Behörden angeprangert.

Doch eines ist den Gegnern dieser Revolution nicht gelungen: Der Übergang zur Moderne wurde nicht aufgehalten. Die Kreativen der 1920er-Jahre prägten nicht nur in Mitteleuropa, sondern weltweit ein neues Kunst- und Kulturverständnis, das nicht mehr auf schöngeistige Begleitung abzielte, sondern auf den Ansatz angewandter Kunst: die Gestaltung des Alltags.

Schwerpunkt: Die 20er-Jahre

Zeit für Neues, Zeit der Extreme: Was die 1920er und die 2020er eint und was sie trennt. Dieser Artikel ist Teil eine Schwerpunktausgabe der "Presse am Sonntag" anlässlich des neuen Jahrzehnts.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2020)

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