Genetik

Wiener Fliegen für die weltweite Forschung

(c) imago images/Nature Picture Libr (Floris van Breugel via www.imag)
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Am Vienna Biocenter züchten Forscher in großem Stil Fruchtfliegen für die Wissenschaft. Mit ihnen werden wichtige Erkenntnisse auch über menschliche Krankheiten gewonnen.

Der Geruch von Germ lockt schon von Weitem in die „Fly Library“ am Campus des Vienna Biocenter. Hier stapeln sich in hellen, temperaturgeregelten Räumen auf Metallregalen nummerierte Pappständer, in denen sich durchsichtige Plastikröhrchen aneinanderreihen. Darin befinden sich winzige Fliegen, die auf einer üppigen Grundlage aus Agar-Agar, Hefe und verschiedenen Zuckern als Nahrung unter einem Wattewölkchen, das das Röhrchen verschließt, für die Wissenschaft geboren werden.

Für den Laien sind die nur wenige Millimeter großen Insekten kaum voneinander zu unterscheiden. Erst bei genauem Hinsehen kann man auch mit bloßem Auge unterschiedliche Augenfarben oder Formationen der Flügel entdecken. Es handelt sich um verschiedene Mutanten der Drosophila melanogaster, der schwarzbäuchigen Taufliege, einem der ältesten und wichtigsten Modellorganismen der Genetik. Die Aufklärung des Erbguts der Taufliege gehört zu den größten wissenschaftlichen Errungenschaften unserer Zeit.

Reihum warten die D.-melanogaster-Stämme der Wiener Fliegenbibliothek darauf, erforscht und benannt zu werden. Denn von den 15.000 bekannten Fliegengenen haben mindestens 5000 noch keinen Namen – bloß Nummern. Eine der Methoden, mit denen die Forscher dabei vorgehen, nennt sich RNA-Interferenz, mit ihr lassen sich gezielt Gene ausschalten. Dabei wird etwa deren Rolle für die Funktion der Sinnesorgane, des Nerven-, Hormon- oder Immunsystems untersucht. Zur Erforschung dieser komplexen Vorgänge bedarf es eines intakten, lebenden Organismus.

Fliegengene für die Medizin

Dass wir heute längst im Genomzeitalter angekommen sind, mit all seinen Erkenntnissen für die Humanmedizin, haben wir nicht zuletzt dieser kleinen Fliege zu verdanken: Ihre Gene decken sich zu 67 Prozent mit jenen des Menschen, und auch ihre biochemischen Abläufe sind zu großen Teilen vergleichbar. Durch sie verstehen wir unter anderem die funktionale Integration von Muskel-, Nerven- und Fettzellen besser als je zuvor. Auch zum Verständnis diverser Stoffwechselkrankheiten, Alterserscheinungen oder Demenz haben die Tiere einen entscheidenden Beitrag geleistet.

Barry Dickson, ehemaliger Direktor des Wiener Instituts für Molekulare Pathologie (IMP) und Georg Dietzl vom Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Imba) haben früh den genetischen Wert der D. melanogaster erkannt und gründeten 2006 mit dem „Vienna Drosophila Resource Center“ (VDRC) eine einzigartige Fliegenbibliothek.

Sie verfügt heute über mehr als 35.000 Fliegenstämme in doppelter Ausführung. Sie alle tragen bestimmte Mutationen in ihren Genen, die meisten davon wurden in Österreich erschaffen.

Durch das VDRC stehen diese Stämme Universitäten und Forschern auf allen Kontinenten zur Verfügung. Jährlich werden an die 100.000 genmanipulierte Fliegeneier „escape-proof“, in bruchfesten, abgedeckelten Kunststofftuben aus Wien um die Welt geschickt. Erst nach Freigabe aller erforderlichen Dokumente werden sie dem Kurierservice anvertraut, der die ungeschlüpfte Fracht binnen fünf Werktagen ans Ziel bringt. Die optimale Reisetemperatur liegt zwischen 14 und 20 Grad, doch die Eier der Drosophila melanogaster würden selbst einige Stunden in Temperaturen von minus 20 Grad überleben, versichern VDRC-Mitarbeiter.

Für Julius Brennecke, Molekularbiologe am Imba, ist der Aufbau dieser Bibliothek, rückblickend auf 13 Forschungsjahre, ein Kraftakt, der seinesgleichen sucht – und eine nicht zuletzt auch logistische Meisterleistung. „Die Manipulation der Fliegenstämme und ihre Haltung ist sensationell. Unsere bestehende Aufgabe und Herausforderung ist es, diese Bibliothek am Leben zu halten“, so Brennecke.

IN ZAHLEN

80.000 Fliegenstämme verschickt das VDRC jedes Jahr in die ganze Welt, in rund 1900 Paketen.

2000 Wissenschaftler aus 53 Ländern arbeiten und forschen mit den Insekten aus Wien.


3000 Publikationen wurden mit den Wiener Modellorganismen bereits veröffentlicht, im Schnitt kommt jeden Tag eine hinzu.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.01.2020)

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