Genau 50 Stunden dauert die Fahrt mit der Transsib von Moskau ins westsibirische Nowosibirsk. Während vor dem Fenster das Leben der anderen vorbeizieht, führt der Zug sein Eigenleben. Von Rauchpausen in kurzen Hosen, dem Triumph der Instantnudeln und der Sehnsucht der Anastasia Wlasowa.
In Russland rattern in diesem Augenblick Hunderte Züge wie unserer über die Schienen. Vorbei an düsterem Gebüsch, aus dem dünne Birkenstämme hervorleuchten wie Kerzlein in einer Kapelle, vorbei an Holzhaussiedlungen, die keinen Aufschluss geben, ob sie bewohnt sind oder längst verlassen wurden, vorbei an Bahnhöfen mit ihren im ganzen Land gleichen grau-roten Stationsschildern.
Rücksichtslos brechen die tonnenschweren Waggons der russischen Eisenbahn durch Zeit- und Vegetationszonen. Von Moskau nach Ulan Ude, von Adler nach Barnaul, von Murmansk nach Wologda, von Tomsk nach Wladiwostok. Auf und ab, kreuz und quer. Und in allen diesen Zügen sitzen Menschen und leben ihr Zugleben.
Graffiti und Baustellen. Doch wir sind noch ganz am Anfang und tun uns noch schwer. Wir rutschen verschämt auf den Kunstledersitzen herum, meiden den Blick des Gegenübers und wissen nicht wohin mit unseren Beinen. Moskau, diese im frühen Winter ewig Grau tragende Metropole, will nicht aufhören. Wir schauen erwartungsvoll zum Fenster hinaus, als ob sich die Welt für uns noch einmal neu eröffnen würde, und sehen Graffiti, Brücken, Baustellen, Wärmekraftwerke und Wohnblöcke aus der Stalinzeit.
Zugegeben, eine tagelange Zugreise mag nostalgisch klingen in der Ära der Billigfluglinien, die viel schneller und fast ebenso günstig sind. Und dennoch: Moskau–Nowosibirsk, zwei Tage und zwei Stunden auf der Transsib-Strecke. In der überheizten Bahn durch die sibirische Kälte, das klingt gemütlich. Was mir anfänglich wie eine extravagante Idee erscheint, wird zum fixen Plan. Womöglich ist das wahrer Luxus? Ich will Nowosibirsk sehen und habe genug Zeit. Also buche ich den Zug mit dem Namen 70Tsch. Tsch wie Tschita in Ostsibirien. Dort fährt er hin.