Interview

"Der Konflikt in der Ostukraine ist lösbar"

Man sollte in Österreich versuchen, die wirklichen Dimensionen Russlands zu sehen, sagt der Diplomat Martin Sajdik
Man sollte in Österreich versuchen, die wirklichen Dimensionen Russlands zu sehen, sagt der Diplomat Martin Sajdik Ákos Burg
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Von Illusionen und wirklichen Fortschritten: Der österreichische Diplomat Martin Sajdik zieht nach vier zähen Jahren Bilanz seiner OSZE-Mission.

Die Presse: Sie waren von Juni 2015 bis Ende 2019, also viereinhalb Jahre, OSZE-Sonderbeauftragter für die Ukraine und Vorsitzender der Trilateralen Kontaktgruppe in Minsk. Im Konflikt in der Ostukraine gibt es erstmals seit Langem Bewegung. Ist es nicht der falsche Zeitpunkt um aufzuhören?

Martin Sajdik: Es ist nicht so, dass sich vorher nichts bewegt hat. Es gab nur nicht so spektakuläre Resultate wie in letzter Zeit. Zuletzt hatten wir etwa mit dem Gefangenenaustausch sehr gute Resultate. Das lässt einen mit einem guten Gefühl gehen. Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist.

Ihre Nachfolgerin ist die Schweizer Diplomatin Heidi Grau. Welche Qualitäten braucht man für die Aufgabe in Minsk?

Es war nicht leicht, einen Nachfolger für meine Vorgängerin, Heidi Tagliavini, zu finden. Und es war jetzt nicht leicht, eine Nachfolge für mich zu finden. Man benötigt sehr gute Kenntnis des postsowjetischen Raums. Man muss wirklich gut Russisch können. Die Verhandlungen werden auf Russisch geführt, alle Dokumente auf Russisch verfasst. Du musst in der Sprache denken, in der die Parteien denken. Das andere ist: Demut. Man muss den Willen haben, etwas für die Opfer des Konfliktes zu tun. Vom Konflikt betroffen sind nicht nur die Toten und Verletzten, sondern alle jene, die in der Region leben oder vertrieben wurden. Millionen Menschen sind das – das vergisst man in Österreich immer wieder. Millionen Menschen dieser beiden territorial größten europäischen Staaten leiden. Wegen nichts.

Was tut man da als Diplomat, wenn sich wieder mal nichts bewegt?

Aber es bewegt sich etwas: Die zivilen Opfer sinken. Im Vorjahr war erstmals kein Kind mehr unter den zivilen Todesopfern. Dafür arbeiten wir, das predigen wir den Konfliktparteien. Es stimmt positiv, wenn man sieht, dass die Arbeit Früchte trägt. Dass die beiden Seiten ja doch auf einen hören. Auch wenn der xte Waffenstillstand nicht besonders eingehalten wird, hat er die Kampfhandlungen reduziert, das bedeutet: mehr gerettete Menschenleben. Man kann den Konflikt nicht lösen, aber das Leid der Menschen mindern. Das ist schon etwas.

Hatten Sie zu Beginn die Hoffnung, den Konflikt politisch zu lösen?

Natürlich. Mittlerweile habe ich verstanden, dass das bislang eine Illusion war. Aber ich glaube nach wie vor, dass der Konflikt lösbar ist und die Minsker Vereinbarungen ein probates Mittel dazu wären. Ich habe in Zusammenarbeit mit anderen Botschaftern Anfang 2019 ein profundes Papier über eine gemeinsame OSZE- und UN-Mission vorgelegt, welches die Minsker Punkte umsetzt. Aus den Reaktionen konnte man indirekt schließen, wer das eigentlich nicht will.

Lassen Sie mich raten: Moskaus Reaktion war negativ.

Ja. Da sieht man dann seine objektiven Limits.

Manchmal wird so getan, als würden Ukrainer und Separatisten nicht miteinander reden – aber genau das passiert ja in Minsk.

In Russland wird das gern so dargestellt. Aber das stimmt nicht: Genau das tun sie zwei Mal im Monat. Seit Juli haben wir unheimlich intensiv verhandelt – es war eine faszinierende Zeit. Alle Entscheidungen wurden ausschließlich von der Trilateralen Kontaktgruppe selbst getroffen, nicht von den Arbeitsgruppen. Manchmal beschimpft man sich auch unter der Gürtellinie, doch dann redet man wieder miteinander. Wenn sie wollen, können der russische Chefverhandler Boris Gryslow und sein ukrainischer Kollege Leonid Kutschma miteinander. Ihr Potenzial ist leider nicht ausgeschöpft. Sie könnten viel erreichen, wenn man sie ließe.

Kann der Konflikt gelöst werden, solange Wladimir Putin russischer Präsident ist?

Das kann ich nicht beantworten. Aber noch einmal: Mit den Minsker Vereinbarungen kann man alles lösen, wenn der politische Wille da ist. Sieht man sich die Kommentare mancher Kreml-naher Kreise an, fragt man sich manchmal: Will man wirklich eine Lösung? Nach Moskaus Verständnis ist der Konflikt in der Ostukraine ein globaler Konflikt – ob das stimmt, darüber lässt sich trefflich streiten. Aber der Kreml nimmt es so wahr. Vielleicht ergibt sich also eine globale Situation, in welcher der Konflikt gelöst werden kann.

Warum ist bis jetzt kein nachhaltiger Waffenstillstand möglich?

Das ist mir selbst ein Rätsel. Offensichtlich besteht ein Interesse daran, den Konflikt auf kleiner Flamme klöcheln zu lassen. Dazu gehört gegenseitiger Beschuss, gehören militärische und zivile Opfer. Es gab auch kurze Perioden mit null Verstößen. Anfang September 2015 habe ich nach einem Sommer mit starken Kampfhandlungen einen Waffenstillstand zu Schulbeginn angeregt. Ich tat das mit der österreichischen „Taferl“-Methode. Diese habe ich in die Kameras gehalten, wie ein gewisser verblichener österreichischer Politiker. Die Seiten waren völlig verblüfft. Sie haben verstanden: Kinder sollen ohne Beschuss in die Schule gehen. 15 Tage wurde kein Schuss abgefeuert. Es gab immer wieder solche Perioden. Wenn die Seiten wollen, dann geht es.

Wie realistisch ist es, dass die beim Pariser Gipfeltreffen im Dezember 2019 verabredeten Maßnahmen umgesetzt werden?

Der bisherige Waffenstillstand wurde bestätigt. Der Gefangenenaustausch ist passiert. Offen sind neue Übergänge und weitere Entflechtungszonen. Die Schritte dazu sollen noch in diesem Monat in Minsk vorbereitet werden. Ein weiterer Übergang sollte in Solote im Gebiet Luhansk eröffnet werden, da es dort bisher nur einen Fußgängerübergang gibt.

Die Reparatur der kaputten Brücke in Staniza Luhanska war ein großer Erfolg. Über die früheren „Hendlstiegen“ konnten viele alte Menschen nicht gehen, um auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet ihre Pensionen zu erhalten. Nach der äußerst raschen Errichtung einer Behelfsbrücke durch die Ukraine geht es jetzt problemlos. Wir haben einen Eisenbahnshuttle vorgeschlagen, um die Mobilität zwischen regierungskontrolliertem und nicht-regierungskontrollierten Gebiet zu verbessern. Das gab es zwischen Ost- und Westberlin – warum nicht auch in der Ostukraine? Die Reparatur der Schienen kostet nicht viel.

Gibt es Chancen, dass die Lokalwahlen wirklich abgehalten werden?

Der Rahmen ist gesetzt: Die Steinmeier-Formel wurde angenommen.

Doch es spießt sich bei den Vorbedingungen.

Ja. Fakt ist, dass es demokratische Wahlen sein müssen, an denen alle politischen Kräfte teilnehmen können. Wahlen auf ukrainischem Territorium nach ukrainischem Wahlgesetz. Alles andere ist illusorisch. Sie müssen entsprechend den OSZE-Standards organisiert sein. Wenn die Separatisten glauben, dass man gewisse Kräfte ausschließen kann, dann wird es nicht gehen.

Sicherheitsgarantien sind ein Streitpunkt.

Darauf sind wir in unserem Papier eingegangen. Wir haben eine internationale Polizeipräsenz vorgeschlagen, um Sicherheit zu gewährleisten. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat das sogar einmal bestätigt. Es ist bedauerlich, dass man hier nie weiter gearbeitet hat. Kritisiert wurde hingegen unsere Idee einer UN-Übergangsverwaltung. Wenn die Seiten einander vergeben und tolerant genug sind, dann braucht man das natürlich nicht. Aber wie sie derzeit miteinander umgehen, nährt Zweifel. Der Vertrauensfaktor zwischen den Seiten ist nicht sehr hoch.

Oft ist zu hören, dass im Minsker Abkommen zu viel drin stehe. Ist das so?

Aber nein. Von der Struktur her ist es alles logisch. Waffenstillstand, Rückzug schwerer Waffen, Entflechtung. Ein Sonderstatus im Rahmen der ukrainischen Dezentralisierung, eine Amnestie. Die Parteien setzen ihre Prioritäten unterschiedlich. Wenn Sie die Vereinbarungen lesen, werden Sie sehen, dass politische Schritte erst nach den Sicherheitsschritten gesetzt werden sollten. Allerdings hat man schon 2015 begonnen, auch über politische Fragen parallel zur Sicherheit zu verhandeln – ich habe das so übernommen. Das ist ein wesentliches Entgegenkommen von ukrainischer Seite.

Dann ist ein Element von russischer Seite dazugekommen: die Forderung nach Autonomie, ein Begriff, den man vergeblich im Text der Minsker Vereinbarungen sucht. Da steht nur Dezentralisierung. Wenn die Ukrainer also nicht über Autonomie reden wollen, kann ich dies nachvollziehen. Sie werden den geplanten Sonderstatus auf ständiger Basis gewähren, zuallererst muss aber die Sicherheitsseite klar sein. Um den Sonderstatus durch die Rada auf ständiger Basis eingeräumt zu bekommen, bedarf es der Beantwortung zahlreicher Fragen, wie etwa: Wie erlangt die ukrainische Seite wieder volle Souveränität über das gesamte Gebiet der beiden Oblasts Donezk und Luhansk? Das Problem ist: Über den diesen Tag X wollen die Russen und die Separatisten bislang nicht reden.

Und ganz generell gefragt: Wie soll man mit Russland reden?

Das ist ein Thema, das mich seit 47 Jahren interessiert, als ich erstmals zum Studium nach Russland kam. Es ist eine Frage, auf die wir nie eine eindeutige Antwort finden werden. Man sollte Russland als das sehen, was es ist: territorial der größte Staat der Erde – mit bloß 144 Millionen Einwohnern. Das ist nicht viel. Eine Wirtschaftsmacht so stark wie Spanien oder Südkorea. Wirtschaftlich gesehen ist Russland kein internationales Schwergewicht. Man muss Russland so nehmen, wie es ist und das den Russen immer wieder klarmachen.

Politisch beansprucht Moskau, eine Weltmacht zu sein.

Ja, und Moskau macht das unglaublich geschickt. Aber die Russen wissen selbst nur zu gut, wie stark und schwach sie wirklich sind. Sie sind sehr gut darin, jemandem anderen das Gefühl zu geben, stärker zu sein als sie es tatsächlich sind. Wenn ausländische Staatsgäste zum Staatsbesuch in den Kreml gehen und eine riesige goldene Tür geht auf und der russische Präsident kommt – dann wirkt das wie eine unglaubliche Macht. Aber es ist eben nur der erste Eindruck. Man sollte in Österreich versuchen, die wirklichen Dimensionen des Landes, seine Realität zu sehen – und nicht schöne russische Märchen über dieses Land erzählen.

In meiner Zeit im Wiener Außenministerium haben wir uns ständig den Kopf darüber zerbrochen, welchen Platz Russland in Europa hat. Aber es hat wenig Sinn, sich den Kopf für die Russen zu zerbrechen. Sie müssen es selbst tun und dementsprechend handeln. Ich hatte sogar einmal einen russischen Austauschbeamten bei mir im Büro sitzen. Haben Sie je von einem österreichischen Austauschbeamten im russischen Außenministerium gehört? Letztendlich hat Russland seine eigenen politischen Probleme, die es lösen muss.

Was halten Sie von Emmanuel Macrons Initiative, Moskau militärisch an Europa zu binden?

Eine der größten Errungenschaften der russischen Präsidenten Boris Jelzin und Wladimir Putin ist der Ausgleich mit China. Dass zwei Kontinentalmächte einen Modus Vivendi gefunden haben, ist epochal. Das soll Moskau aufs Spiel setzen? Glaubt das jemand in Europa? Ich sehe das nicht. Diesen Erfolg muss man den Russen lassen, er hat sie viele Konzessionen gekostet. Das asiatische Alter Ego der Russen – diese riesige Landmasse – sollte man nicht unterschätzen.

Zur Person

Der österreichische Diplomat Martin Sajdik (Jg. 1949) war unter anderem Ständiger Vertreter Österreichs bei der UN sowie ab Juni 2015 Ukraine-Sondergesandter der OSZE. Seine Nachfolgerin ist die Schweizer Diplomatin Heidi Grau.

Der Konflikt

Der Ukraine-Konflikt begann im Jahr 2013 mit dem Sturz der Moskau-treuen Führung in Kiew und entwickelte sich zum Bürgerkrieg ukrainischer Regierungstruppen gegen prorussische Separatisten im Osten des Lande.

Am 21. November kippte der russlandfreundliche Präsident Viktor Janukowitsch ein EU-Assoziierungsabkommen, anschließend demonstrierten Tausende in Kiew am Maidan-Platz. Bei Straßenschlachten starben mehr als 100 Menschen. Im Februar 2014 floh Janukowitsch schließlich aus Kiew.

USA und die EU erhöhten den Druck auf Russland mit Sanktionen, die bis in den engsten Kreis um Kremlchef Wladimir Putin heranreichten. Im April beginnt der militärische "Anti-Terror-Einsatz" gegen die prorussischen Separatisten in der Ostukraine. 

Noch im August 2014 kommen Kremlchef Wladimir Putin und der ukrainische Präsident Petro Poroschenko in der weißrussischen Hauptstadt Minsk erstmals zu direkten Verhandlungen zusammen. Wenige Tage später folgt eine Einigung auf eine Waffenruhe, die aber brüchig bleibt.

Nach Vermittlung Deutschlands, Frankreichs und Russlands einigen sich Kiew und Vertreter der Separatisten beim zweiten Minsker Treffen (Februar 2015) auf ein detailliertes Friedensabkommen. Ein Jahr später ist kaum ein Punkt umgesetzt.

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