Analyse

Chinas Wirtschaft wird langsam normal

„Nur“ 6,1 Prozent Wachstum in China, so wenig wie seit 30 Jahren nicht. Klingt bedrohlich, oder etwa doch nicht?

Die pessimistischen Prognosen haben sich also bewahrheitet. Chinas Wirtschaft wuchs 2019 nur noch um 6,1 Prozent. 2018 waren es 6,6 Prozent. Für Freunde der Statistik: Seit 30 Jahren ist das Bruttoinlandsprodukt im Reich der Mitte nicht so langsam gewachsen. Schlechte Nachrichten also. Denn der chinesische Staatskapitalismus galt in den vergangenen Jahren als Lokomotive der Weltwirtschaft. Nur US-Präsident Donald Trump war das Tempo der Chinesen etwas zu schnell.

Tatsächlich ist Chinas Wirtschaft wohl eher auf dem Weg zur Normalität. Seit 2000 hat sich das Bruttoinlandsprodukt Chinas fast verzwanzigfacht. In den USA und Europa immerhin verdoppelt. Verdoppelt hat sich in China die Lebenserwartung – und das binnen einer Generation. 1950 lag sie bei 41 Jahren, in den 1970ern noch unter 60, heute sind es 73 Jahre. In den USA sinkt die Lebenserwartung seit fünf Jahren. Immer weniger Chinesen leben unter der Armutsgrenze. Mittlerweile generiert China 70 Prozent seines Wirtschaftswachstums aus dem Inlandskonsum. Dass auf diesem Planeten immer weniger Menschen unter der Armutsgrenze leben, verdanken wir hauptsächlich dem kommunistischen China (und nicht dem westlichen Kapitalismus, würde der linke Wirtschaftsnobelpreis-Träger Joseph Stiglitz süffisant hinzufügen).


Egal, ob die Friedenspfeife im Handelskonflikt zwischen den USA und China nur bis zu Trumps Wiederwahl im November glüht oder etwas länger. Am Ende der 20er-Jahre wird China die USA als weltgrößte Wirtschaft überflügelt haben. Und auch Indien, Indonesien und Brasilien werden im Konzert der Top-zehn-Ökonomien ein kräftigeres Wörtchen mitreden. Demnächst werden die G7-Staaten (USA, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Kanada) von den E7-Ländern (China, Indien, Brasilien, Russland, Indonesien, Mexiko, Türkei) in puncto Wirtschaftskraft überholt.

Chinas einst zweistellige Wachstumsschübe wurden übrigens teuer erkauft. Nach wie vor leiden Staatskonzerne unter hoher Schuldenlast, der chinesische Finanzsektor ist – höflich formuliert – äußerst porös.

China wird nicht mehr zweistellig wachsen – und dennoch Lokomotive bleiben. In Europa (und ab heuer auch in den USA) kann man selbst von zwei Prozent Wachstum nur träumen.

gerhard.hofer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2020)

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