Gesichtserkennung

Clearview AI: Eine Dystopie wird Realität

imago/Ralph Peters
  • Drucken

Nie mehr anonym? Clearview AI saugt seit Jahren öffentliche Social-Media-Fotos ab, um sie in einer Datenbank US-Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung zu stellen.

2011 nimmt New-York-Times-Journalistin Kashmir Hill an einem Workshop der US-Handelskommission FTC (Federal Trade Commission) teil. Die Frage war, wie weit Gesichtserkennung gehen dürfe und inwiefern diese Technologie reguliert werden müsse. Alle waren sich einig, dass technische Machbarkeit nicht zwingend auch eine Umsetzung nach sich ziehen müsse: "Eine App, die in Echtzeit anonyme Individuen auf der Straße erkennt, könnte ernsthafte Gefahren für Privatsphäre und Sicherheit bedeuten", heißt es im Abschlussbericht. Eine Meinung, die der Erfinder von „Clearview AI“ offenbar nicht teilt. 

"Clearview AI" von dem 31-jährigen Australier Hoan Thon-That ist eine riesige Datenbank, die ein anonymes Fortbewegen auf den Straßen nahezu unmöglich macht. Mit einer Datenbank, die mehr als drei Milliarden Fotos von Gesichtern umfasst, gespeist durch Facebook, Twitter, YouTube und Instagram. Dass sein Vorgehen gegen die Nutzungsbedingungen verstößt, ist dem 31-Jährigen klar. „Viele Leute machen das“, meint er lapidar gegenüber Hill und ergänzt: „Facebook weiß es.“

Automatisch werden durch die von Thon-That entwickelte Software neue Bilder hochgeladen. Mehr als 600 US-Behörden, darunter das FBI, die Homeland-Security und Dutzende Polizeidienststellen greifen auf das System zu. Natürlich gegen Bezahlung und ohne Wissen der Gesuchten.

Wie funktioniert die Clearview-App?

Ein Foto von der gesuchten Person wird in das System hochgeladen und schon erhält man öffentliche Bilder von der Person sowie Links zu den Orten, an denen die Fotos erschienen sind. Damit lässt sich ein Bewegungsprofil nahezu in Echtzeit erstellen.

Der Selbstversuch

Die New-York-Times Reporterin wagte den Selbstversuch. Sie bat Polizisten ihr Foto in die Clearview-App hochzuladen. Bald erhielten die Ermittler Anrufe von Unternehmen, die sich nach Hill erkundigten und wissen wollten, ob die Beamten Kontakt mit den Medien hätten. Ton-That zufolge liege das nicht daran, dass Clearview selbst alles überwacht. Vielmehr habe das System Alarm geschlagen, weil es sich um atypische Anfragen gehalten habe. Um das zu verhindern, sei ein Alarmsystem implementiert worden. Damit wolle man "unangemessenes" Suchverhalten unterbinden.

Kennen die Behörden die genaue Funktionsweise?

Gegenüber der New York Times erklären die Beamten, dass sie nicht genau wüssten, wie die Datenbank funktioniere. Aber dass sie es tut, das sehen sie. So habe Clearview bereits geholfen, Fälle von Ladendiebstahl, Identitätsdiebstahl, Kreditkartenbetrug, Mord und Missbrauch von Kindern aufzuklären.

Wie gut funktioniert das Tool?

Dem Erfinder der App zufolge, hat Clearview AI eine Trefferquote von 75 Prozent. Wären Überwachungskameras nicht immer an Decken oder hohen Wänden montiert, wäre die App effektiver. „Der Winkel ist falsch für die Gesichtserkennung“, moniert der 31-jährige Australier. Es ist jedoch unklar, wie oft das Tool falsche Übereinstimmungen liefert, da es nicht von einer unabhängigen Partei wie dem National Institute of Standards and Technology getestet wurde, einer Bundesbehörde, die die Leistung von Gesichtserkennungsalgorithmen bewertet.

Was sind die Gefahren?

"Die Möglichkeiten, Waffen einzusetzen, sind endlos", sagte Eric Goldman, Co-Direktor des High Tech Law Institute an der Santa Clara University. "Stellen Sie sich einen schurkischen Strafverfolgungsbeamten vor, der potenzielle romantische Partner verfolgen möchte, oder eine ausländische Regierung, die dies nutzt, um Geheimnisse über Menschen zu erpressen oder ins Gefängnis zu werfen."

Was wäre mit dieser Technologie möglich?

Der Quelltext von Clearview AI gebe laut Hill Hinweise auf die Entwicklung einer Augmented-Reality. Angenommen der Einsatz beschränkt sich auf Behörden, dann wäre es möglich, Demonstranten in Echtzeit zu identifizieren. Name, Adresse und Konten von Sozialen Netzwerken wären innerhalb von Sekunden abrufbar. Sollte die Brille kommerzialisiert werden, könnte der attraktive Fremde in der Straßenbahn zu einem offenen Buch werden, ohne auch nur ein Wort mit ihm sprechen zu müssen.

Wieso haben andere Tech-Riesen nicht längst so eine Software am Markt?

Technisch ist es längst möglich. Amazon bietet eine entsprechende Software mit dem Namen "Rekognition" Ermittlungsbehörden an. Etliche asiatische High-Tech-Konzerne haben Gesichtserkennungsprodukte im Angebot.

Google hingegen verzichtet seit Jahren darauf, "weil uns bewusst wurde, dass es eine Technologie voller Risiken ist", erklärte Google-Chef Sundar Pichai kürzlich in Brüssel. Er rief Regierungen auf, schnell Regeln für den Einsatz dieser Technologie aufzustellen. "Das ist zu sehr von kritischer Bedeutung, um das nicht zu tun." Dabei sei es wichtig, gleich einen internationalen Rahmen zu schaffen. "Künstliche Intelligenz wird in globalem Maßstab eingesetzt werden, viele Länder sind involviert, Alleingänge werden für niemanden funktionieren", warnte Pichai. So werde "eine Menge KI-Technologie in China entwickelt werden", gab er zu bedenken.

Wer steht hinter Clearview-AI?

Ideengeber und maßgeblicher Kopf der App ist der 31-jährige Australier Hoan Thon-That. Mit zwei Projekten war er bereits gescheitert. Zufällig lernte Hoan Thon-That 2016 Richard Schwartz kennen. Der 61-Jährige verfügt über ein großes Netzwerk. Er war es auch, der Peter Thiel, einem Risikokapitalgeber, der bereits in Facebook und Palantir investierte, von Clearview überzeugte. Thiel sitzt auch im Vorstand von Facebook.

(bagre)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.