Koalitionsfreie Räume

Lernen von der Schweiz

Die Schweiz könnte Inspiration für eine Politik unterschiedlicher parlamentarischer Mehrheiten sein.

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Das Regierungsprogramm zwischen der ÖVP und den Grünen verbinde, wie es Sebastian Kurz formuliert hat, „das Beste aus beiden Welten“. Das Regierungsprogramm enthält den beachtenswerten Punkt des „koalitionsfreien Raumes“. Nicht die Koalition entscheidet, sondern unterschiedliche parteipolitische Mehrheiten. Hingegen gehört eine stärkere Bürgerbeteiligung, anders als in der Vorgängerregierung aus ÖVP und FPÖ, nicht mehr zu diesen Welten. Für die direktdemokratischen Elemente wird die Schweiz oft als Vorbild genommen. Übersehen wird, dass Normalfall und Voraussetzung für das Funktionieren der direkten Demokratie in der Schweiz gerade die unterschiedlichen, wechselhaften parlamentarischen Mehrheiten sind.

Hier werden Parlament und Regierung in getrennten Wahlen fest für eine Amtsdauer gewählt. Die parteipolitische Zusammensetzung von Parlament und Regierung unterscheidet sich oft beträchtlich. Es gibt keine Koalition und kein Regierungsprogramm, wie in Österreich üblich. Keine Partei oder Koalition verfügt über eine parlamentarische Mehrheit, folglich muss bei konkreten Sachgeschäften stets um eine Mehrheit gerungen werden.

Dieses Ringen beginnt bereits, bevor ein Gesetzesvorhaben dem Parlament vorgelegt wird. Alle Betroffenen und Akteure der Zivilgesellschaft können Stellung zum Gesetz nehmen. Durch dieses Verfahren kann die Exekutive ihr Vorhaben in einer sehr frühen Phase auf die sachliche Richtigkeit, Vollständigkeit, Vollzugstauglichkeit und auf die politisch-gesellschaftliche Akzeptanz überprüfen.

Nach dieser Phase kommt die Regierungsvorlage ins Parlament. Es wird nun im Konsens nach Lösungen gesucht, damit sich eine breite parlamentarische Mehrheit hinter das politische Vorhaben stellen kann, um letztlich auch ein Referendum zu verhindern.

Es mag im österreichischen politischen System unvorstellbar sein, dauerhaft so zu funktionieren. FPÖ-Klubchef Kickl brachte nach der Regierungserklärung von Kanzler Kurz zum Ausdruck, was er von solchen Überlegungen hält, nämlich nichts. Dies mag der Logik des Bisherigen geschuldet sein – hier die Regierung mit ihren parlamentarischen Klubs, da die Opposition (wie auch bei den Themen Migration und Asyl, bei denen ein mögliches unterschiedliches Abstimmungsverhalten der Koalitionspartner eigens im Regierungsprogramm angeführt wird). Doch hier könnte die Schweiz sogar noch mehr als Inspiration dienen als bei der direkten Demokratie.

Hört sich revolutionär an?

Es scheint mir der Mühe wert, zu überlegen, was es bedeuten würde, diesen Aspekt des schweizerischen politischen Systems auf Österreich zu übertragen – nämlich die politisch-gesellschaftlichen Akteure in der vorparlamentarischen Phase bei Gesetzesvorhaben einzubeziehen, um parlamentarische Mehrheiten jenseits von Regierung oder Opposition auszuloten mit dem Ziel, einen breiten Konsens zu erreichen. Dies bedingt das Zulassen des freien Mandats, die ausgehandelten Kompromisse nicht zu verunglimpfen, sondern sie als bedeutenden demokratischen Wert an sich zu verstehen.

Hört sich das revolutionär an? Gab es den Ansatz unterschiedlicher Mehrheiten nicht bereits in Österreich während der Zeit der Expertenregierung? Als außenstehender Beobachter empfand ich diese Zeit für den Parlamentarismus nicht als die schlechteste. Es wäre das Beste einer Welt, welche die Akzeptanz von Politik und deren Akteuren erhöhen sowie die parteipolitische Polarisierung entschärfen könnte.

Dr. Michael Strebel ist Leiter des Parlamentsdienstes des Kantonsparlaments Solothurn und Lehrbeauftragter für Vergleichende Politikwissenschaft an der FernUniversität in Hagen.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.01.2020)

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