Gute Nachbarn auf Bestellung

(c) Marin Goleminov, Presse
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Auf die Kinder aufpassen oder zum Arzt fahren – wo man früher für Hilfe beim Nachbarn klingelte, steht man heute meist vor verschlossenen Türen. Starke Abwanderung und Vollzeittätigkeit dünnen die Ortskerne aus. Besonders Ältere können ihren Alltag aber nur mithilfe anderer, wie ihrer Nachbarn, meistern. In einigen Regionen Österreichs hat sich die Nachbarschaftshilfe deshalb professionalisiert. (Von Nina Pöchhacker)

Frau Kaplan muss zweimal pro Woche zur Physiotherapie. Die 89-Jährige ist zu Fuß zwar noch fit, erledigt so ihre Einkäufe, aber das Autofahren traut sie sich seit zwei Jahren nicht mehr zu. Die nächste Physiotherapie, die von der Krankenkasse bezahlt wird, ist in Neusiedl am See – von Kaplans Heimatort, Nickelsdorf, sind das mit dem Auto 25 Minuten. Die Strecke fährt sie jedes Mal mit einem anderen „Nachbarn“. Die meisten kennt sie vom Sehen, so wie Maria Tröstner.

Maria Tröstner und Frau Kaplan
Maria Tröstner (links) und Frau Kaplan im Wartezimmer der Physiotherapie(c) Nina Pöchhacker

Seit März engagiert sich Maria Tröstner bei NachbarschaftshilfePLUS, einem Verein, der Dienste anbietet, die früher oft von Nachbarn erledigt wurden. Dazu zählen Einkaufsfahrten, auf Kinder aufpassen, spazieren gehen, Kartenspiele, Kaffee trinken. Maria Tröstner verbringt etwa zweimal pro Monat Zeit mit einem Klienten – so werden jene Menschen genannt, die Leistungen des Vereins in Anspruch nehmen. „Bis jetzt waren es durchwegs medizinische Termine. Also zu Krankenhäusern oder Ärzten“, sagt Tröstner. Das liege am Alter der Personen. Die meisten sind über 80 Jahre alt. Die 350 Ehrenamtlichen des Vereins gehören zu großen Teilen der Generation 60 plus an und stehen am Anfang ihrer Pension. 

„Die dritte Lebensphase unterstützt die vierte“, erklärt Astrid Rainer, die das Projekt im Burgenland leitet. Seit fünf Jahren gibt es die professionell organisierte Nachbarschaftshilfe – aktuell sind es 17 Gemeinden, begonnen hat man mit sechs. Finanziert wird der Verein von der jeweiligen Gemeinde und dem Land Burgenland. Je nach Ortsgröße gebe es bis zu 25 Ehrenamtliche, sagt Rainer. Die Orte haben alle das gleiche Problem: Sie überaltern.

Vor allem Frauen nutzen Nachbarschaftshilfe

Kaplan wohnt seit 40 Jahren im selben Haus in Nickelsdorf. Sie kennt die Nachbarn in ihrer Straße und wenn sie Kleinigkeiten, wie etwa Lebensmittel, braucht, kann sie sich diese von ihnen ausborgen. Doch sind sie alle in einem Alter, in dem die Bewältigung des Alltags zur Herausforderung wird. Die Kinder und Enkelkinder ziehen oder zogen bereits wegen der Berufsaussichten nach Neusiedl, Eisenstadt und die meisten nach Wien. Um von A nach B zu kommen, sind Ältere immer auf jemanden angewiesen, denn die meisten haben keinen Führerschein oder kein Auto mehr. Die öffentliche Anbindung besteht in kleinen Orten wie Nickelsdorf aus dem Schulbus, der in der Früh und am späten Nachmittag fährt. „Viele Frauen sind nie selbst gefahren und wenn dann der Ehemann stirbt, verlieren sie die Mobilität. Wenn man am Land kein Auto hat, ist es eigentlich vorbei“, sagt Projektleiterin Astrid Rainer.

Die meisten Dienste seien deshalb Fahrten, sagt Rainer. Dabei gehe es nicht um ein Taxiservice, sondern um eine Begleitung. Ehrenamtliche Maria Tröstner sieht das ähnlich: „Es sind ja auch persönliche Fahrten, wenn man zum Krankenhaus fährt. Man lernt jedes Mal jemanden neu und besser kennen, und das ist eigentlich das Schöne daran.“ Mindestens zwei Tage vorher erfährt sie von einer Mitarbeiterin des Vereins, welcher Dienst gebraucht wird. Die Fahrt muss sie aber nicht machen, alles basiert auf Freiwilligkeit.

Frau Kaplan und Maria Tröstner im Hintergrund
Frau Kaplan fährt zweimal pro Woche mit einem "Nachbarn"(c) Nina Pöchhacker

Für Astrid Rainer ist die Art der Terminvermittlung einer der Gründe, weshalb die Ehrenamtlichen auch Teil des Projekts bleiben und nicht nach ein paar Monaten wieder aussteigen: „Es entsteht kein sozialer Druck. Man wird nicht von der älteren Dame direkt gebeten, sondern eine Mitarbeiterin vermittelt die Termine, und man kann ohne Grund als Ehrenamtliche auch Nein sagen.“ So bekommen ältere Personen keine Absage und trauen sich weiterhin, um Hilfe zu bitten. In den neun Gemeinden im Bezirk Oberpullendorf half man so in vier Jahren 380 Klienten. Wären die Personen stattdessen mit dem Taxi oder der Rettung zu Terminen gefahren, hätte das nach Angaben des Vereins etwa eine halbe Million Euro gekostet.

Der Verein versuche auch, dass unterschiedliche Freiwillige zusammenkommen, damit sich niemand zu sehr an eine Person gewöhnt. Damit möchte man verhindern, dass die Nachbarschaftsdienste mit einer Pflegebetreuung oder einem Putzdienst verwechselt werden – das sei vorgekommen, erzählt Projektleiterin Rainer. „Es ist ein neues Projekt, und alles Neue stößt in einem kleinen Ort erst einmal auf Skepsis.“
 
Bevor mit der Suche nach Freiwilligen begonnen wird, führt der Verein deshalb schriftliche Haushaltsbefragungen durch. Der Gemeinderat muss den Start der NachbarschaftshilfePLUS ebenfalls beschließen. In Orten mit Bürgermeisterinnen funktioniere das besser, sagt Rainer: „Das hat viel mit der traditionellen Rollenverteilung zu tun. Es sind vor allem Frauen, die Nachbarn helfen und mit Eltern und Schwiegereltern Arzttermine wahrnehmen. Die Bürgermeisterinnen haben den Bedarf oft schneller erkannt."

Zuerst Abwanderung, dann Isolation

Das strukturelle Problem der Überalterung findet sich in allen Regionen Österreichs. Steirische Gemeinden haben bei Astrid Rainer bereits Interesse bekundet. Ähnliche Nachbarschaftsprojekte, die vor allem Fahrt- und Besuchsdienste machen, gibt es im Waldviertel in Niederösterreich und in Kärnten.
 
Das Kärntner Dorfservice ist das Grundmodell, das auch die NachbarschaftshilfePLUS übernommen hat. Seit zwölf Jahren ist der Verein im Bezirk Spittal tätig. Die Angebote werden breiter ausgelegt als jene im Burgenland. „Es geht darum, die Isolation zu bekämpfen“, sagt Geschäftsführerin Ulrike Kofler. Früher habe das Familiennetz die Lücken geschlossen, jetzt habe man starke Abwanderung. „Das Stadtvorurteil, seine Nachbarn nicht zu kennen, stimmt am Land mittlerweile auch. Denn die Rolle der Frau hat sich am Land total verändert. Frauen haben früher als Hausfrauen die nachhaltigen Beziehungen und das Sozialkapital im Ort gepflegt“, sagt Kofler. Das sehe man weiterhin bei den Ehrenamtlichen: Von den 170 im Bezirk sind 70 Prozent Frauen. Auch die neun Angestellten, die sich um die Termine kümmern, sind Frauen. Über das Weitererzählen würden sich immer wieder neue Freiwillige dem Verein anschließen.

Je nach Infrastruktur des Orts unterscheiden sich die Angebote des Dorfservice in Kärnten. Umgesetzt wurden deshalb auch Greißlereien oder Treffen für junge Mütter. „Wir hätten schon wieder viele Gemeinden, die Bedarf angemeldet haben. Darunter mit Spittal die erste größere Stadt. Aber finanziell ist eine Erweiterung aktuell nicht möglich“, sagt die Geschäftsführerin. Finanziert wird die professionelle Nachbarschaftshilfe zu zwei Dritteln von den Gemeinden und dem Land, ein Drittel wird durch Spenden lukriert. Eine Gemeinde koste das Projekt etwa 7000 Euro im Jahr, erklärt Kofler. Da die Sozial- und Pflegekoordination des Landes aber neu organisiert werde, würden die Mittel für laufende Projekte derzeit nicht erhöht werden.

Andere Nachfrage bei Nachbarschaftshilfe in Städten

Im Burgenland will mit der Landeshauptstadt, Eisenstadt, eine ähnlich große Stadt wie Spittal am Nachbarschaftsprojekt teilnehmen. Die Probleme für ältere Generationen sind dort aber andere, denn Infrastruktur und Mobilität sind gegeben, sagt NachbarschaftshilfePLUS-Projektleiterin Astrid Rainer: „Die Einsamkeit ist das Thema. Es gibt in Städten weniger Netzwerke. Es werden eher Kaffee trinken und spazieren gehen, also klassische Besuchsdienste, sein."

Auch beim Hilfswerk in Wien kümmert man sich seit Jahren um die Vereinsamung im Alter - auch hier anders als in ländlichen Regionen. Es gibt eigene Nachbarschaftszentren, also Orte, an denen sich Nachbarn treffen können. Verena Mayrhofer-Iljić, Leiterin des Nachbarschaftszentrums in Ottakring, sieht das aber nicht mehr unter „Nachbarschaftshilfe“, sondern als Freiwilligenarbeit. Die Eigenmotivation sei eine andere: „Menschen melden sich bei uns, weil sie zum Beispiel freiwillig Kurse abhalten wollen in den Zentren. Aber auch Lernhilfen. Pro Woche finden in Ottakring 35 Veranstaltungen statt.“ Die Nachbarschaft lernt sich so kennen, aber es geht nicht um typische Hilfe, die man von Nachbarn bekommt. Außerdem kämen die Freiwilligen, im Unterschied zur Nachbarschaftshilfe, aus allen Generationen. Beim Hilfswerk engagieren sich neben fitten Pensionisten auch Studierende, Arbeitssuchende oder Menschen, die nach einem Burn-out wieder in den Alltag finden wollen.

London war eine der ersten Städte mit organisierter Nachbarschaftshilfe. In den 1880er-Jahren zogen Studierende und Universitätsprofessoren in ärmere Viertel, um dort Bildung anzubieten. In Wien entstand das erste Nachbarschaftszentrum um 1900 in Ottakring, sagt Mayerhofer-Iljić: „Die Hemmschwelle ist durch die Anonymität viel größer. Menschen ziehen sehr oft um, das schafft keine stabile Nachbarschaft. Beim Nachbarn einfach zu klopfen und etwas zu unternehmen ist deshalb schwierig.“ In Nachbarschaftszentren des Hilfswerks würden Freiwillige, die Kurse anbieten, mit jenen zusammentreffen, die Gesellschaft und soziale Kontakte suchen.

Frau Kaplan (links) und Maria Tröstner spazierend
Den Alltag nicht alleine meistern zu müssen, hilft auch der psychischen Gesundheit(c) Nina Pöchhacker

Freiwillige suchen Aufgaben für Pension

Die Schwierigkeit liegt darin, die Menschen zu erreichen, die einsam sind, aber jene Hemmschwelle nicht überwinden: Die burgenländisiche Projektleiterin Astrid Rainer spricht davon, dass die Eingewöhnungsphase in einem Ort bis zu einem Jahr dauern kann. Bei den Freiwilligen habe man eine geringe Fluktuation, denn es engagieren sich Personen, die in Vereinen wie der Feuerwehr oder im Fußball nicht aktiv sind, sagt Rainer: „Viele haben zu wenig Zeit für regelmäßige Vereine. Bei uns kann man auch einmal im Jahr einem Nachbarn helfen. Für manche ist auch das Kilometergeld als Taschengeld ein Anreiz. Und das Rauskommen von zu Hause – man hat eine Aufgabe, man wird gebraucht.“

Für die Ehrenamtliche Maria Maria Tröstner aus Nickelsdorf war klar, dass sie sich in ihrer Pension freiwillig engagieren möchte. Ihr fällt auf, dass vor allem Menschen die Nachbarschaftshilfe in Anspruch nehmen, die gesellig sind: „Ich fahre durchwegs mit Personen, die man früher auf Festen und Veranstaltungen gesehen hat. Auch Frau Kaplan war immer dabei“, sagt Tröstner. Und manchmal gehe es bei den Nachbarschaftsdiensten eben gar nicht um eine bestimmte Erledigung, sondern um das Reden, Geschichtenerzählen und das Gesellschaftleisten an sich.


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