Internationale Freiwilligkeit

Wikipedia: Mühevoller Kampf oder Ideologie?

(c) Marin Goleminov, Presse
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Wikipedianer leisten aufwendige Arbeit, die immer weniger Menschen machen wollen. Sie kostet viel Zeit, in den Diskussionsforen geht es harsch zu, und irgendwie ist es ein bisschen wie in einem Männerverein Anfang der 2000er. Wieso tut man sich das überhaupt noch an? (Von Selina Holešinsky)

Plani schreibt gern. Am liebsten über Vorarlberger Lokalpolitiker. Manchmal aber auch über Flüsse, Bergspitzen oder Gummigeschosse. 474 Artikel hat er schon erstellt und bearbeitet. Ab und zu macht Plani auch Fotos. Darunter Abbildungen vom Verteilerkreis Favoriten, Aufnahmen von ehrwürdigen Amtsgebäuden oder Nahaufnahmen von Polizeiautos. Ein buntes Potpourri, das man sich eher nicht ins Familienalbum kleben würde. Dafür ist es aber auch nicht gedacht. Denn wenn Plani ein Foto macht, dann kategorisiert und archiviert er es fein säuberlich online auf Wikipedia. Seiner digitalen Heimat.

Seit mehr als 15 Jahren ist Plani, dessen eigentlicher Name Thomas Planinger ist, schon dabei. Er ist Wikipedianer der frühen Stunde und mittlerweile auch Vorstandsmitglied der Wikimedia-Foundation – jener Organisation, die Wikipedia durch Spenden finanziert. Täglich sitzt er mindestens vier Stunden in dem kleinen Büro seiner Wohnung und tut, was er nicht lassen kann: schreiben.

Mit diesem Hobby ist Plani nicht allein. Weltweit teilen laut Angaben von Wikimedia rund 2,5 Millionen Menschen seine Passion und kategorisieren, diskutieren oder verfassen Artikel. In Österreich liegt die geschätzte Autorenzahl bei rund 450. Wer genau hinter den Wikipedia-Einträgen steckt, ist schwer zu sagen, denn die Nutzer sind anonym.

Mittlerweile existiert Wikipedia in 303 Sprachversionen. Dabei wird keineswegs einfach eine Version von Wikipedia in alle Sprachen übersetzt: Jede Sprachversion bearbeitet Themen für sich und sucht nach Quellen, die von den jeweiligen Autoren als relevant empfunden werden. Das führt dazu, dass in unterschiedlichen Kulturkreisen Themen unterschiedlich dargestellt werden.

Raue Diskussionen können abschreckend wirken

Immer wieder jedoch komme es gerade bei politischen Themen zu Diskussionen über Belege von Fakten, hinter denen sich manchmal auch Meinungen von Autoren versteckten, erzählt Plani. In solchen Fällen ist es wichtig, dass die Community reagiert, diskutiert und die Quellen überprüft werden. Dass das nicht in allen Fällen einfach ist, sei klar, doch dafür müssten Diskussionen angestoßen werden. Sie tragen dazu bei, dass sich die Qualität und die Inhalte bei Wikipedia verbessern. Doch wenn Wikipedianer diskutieren, könne es auch „sehr rau“ hergehen, und wenn man das nicht gewohnt sei, wirke das leicht abschreckend. Vor allem für Neueinsteiger, meint Plani.

Ein Wissensverein für Männer?

Seit der Anfangsphase ist der Anteil der männlichen Autoren weit größer als jener der weiblichen. Woran genau das liegt, ist schwer zu sagen, doch wie so oft spielt hier eine Vielzahl an Faktoren zusammen. Was mit männlichen Tech-Nerds begonnen habe, habe sich über die Jahre in eine Art Männerverein verwandelt, erzählt Plani. Schätzungen von Wikimedia zufolge sind rund 80 bis 90 Prozent der Wikipedianer männlich.

Aufgrund des großen Männeranteils wird Wikipedia immer wieder vorgeworfen, dass sich das Geschlecht der Autoren auch auf die Inhalte auswirke. So handeln etwa nur 16 Prozent aller Biografien in Wikipedia von Frauen. Doch Frauen sind in Wikipedia nicht nur unterrepräsentiert, sie werden oftmals auch anders dargestellt. So hat beispielsweise die Sozialwissenschaftlerin Claudia Wagner von der Cornell University in einer Studie herausgefunden, dass in Artikeln über Frauen häufiger ihr Beziehungs- und Familienleben erwähnt wird. Bei Männern hingegen werden Themen wie Scheidungen oder Kinder kaum bis gar nicht angeschnitten.

Um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, gibt es seit 2015 die Initiative „Frauen in Rot“. Sie macht darauf aufmerksam, dass der Gendergap auf Wikipedia immer noch sehr groß ist, und versucht, Wikipedianer dafür zu sensibilisieren, die Geschlechterlücke zu schließen.

Tabuthema Bots

Doch nicht nur der Gendergap stellt Wikipedianer vor Herausforderungen. Unter ihnen gibt es auch ein Tabuthema: Bots. Die zweit- und drittgrößte Wikipedia-Version der Welt wird nämlich teilweise von Bots geschrieben. Ein heikles Thema in der Community, erzählt Plani.



Während die schwedische Wikipedia als drittgrößte Enzyklopädie noch eine aktive Community hat, wird die cebuanische (Cebuano wird auf den Philippinen gesprochen) ausschließlich von Algorithmen befüllt. Ihnen wird die Artikelhoheit übertragen. Sie entscheiden über Aufbau und Quellen, die in der Masse, in der sie Artikel erstellen, von niemandem überprüft werden können. Das gehe natürlich auch zulasten der Qualität, erzählt Plani.

Kind der 2000er-Jahre

Die Qualität der Online-Enzyklopädie ist nicht nur durch Bots in Gefahr, sondern auch durch die jüngsten Entwicklungen auf der Plattform. 2001 startete der damals 35-jährige Amerikaner Jimmy Wales das Projekt Wikipedia, das sich seither in ungeahntem Tempo entwickelte: Innerhalb von zwei Jahren umfasste die gesamte Wikipedia bereits über 130.000 Artikel in 28 Sprachen – eine Marke, mit deren Erreichen Wales erst acht Jahre nach Gründung gerechnet hatte.

Bis 2006 kamen immer wieder neue Autoren hinzu, die enthusiasmiert neue Themen aufgriffen und sich der Betreuung ihrer Artikel widmeten. Doch was sich in unkontrollierbarem Tempo von selbst verbreitet hatte, flaute seit 2006 ab. Immer weniger neue Autoren begannen zu schreiben, und bestehende Autoren schränkten ihr Aktivitätsniveau stark ein.

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Je älter Wikipedia wurde, desto mehr Eintrittsbarrieren gab es für Interessierte. Plani bezeichnet vor allem die deutschsprachigen Wikipedianer als „strukturkonservativ“. Wikipedianer der ersten Stunde wollten keine Änderungen in „ihrem“ System zulassen: „Die Website ist ein Kind der frühen 2000er. Das sieht man ihr an allen Enden an.“ Seit dem Beginn von Wikipedia hat sich die Website nur langsam weiterentwickelt und enspricht nicht mehr dem heutigen Standard der Nutzerfreundlichkeit, findet Plani.

Wikipedia verliert Freiwillige

Der Autorenschwund ist ein ernst zu nehmendes Problem, dem auch die Wikimedia Foundation aktiv entgegenzusteuern versucht. Durch Workshops und Veranstaltungen sollen Eintrittsbarrieren entfernt und Interessierte zur Mitarbeit animiert werden. „Viele wissen nicht, dass sie selbst mitmachen können. Für viele ist Wikipedia ein Buch mit sieben Siegeln. Das muss sich ändern“, sagt Plani.

Je weniger neue Autoren hinzukommen, desto größer die Gefahr, dass Artikel irgendwann nicht mehr überarbeitet werden und Wikipedia veraltet. Seit Februar 2015 hat sich die Anzahl der als veraltet gekennzeichneten Artikel in der deutschsprachigen Wikipedia-Version bereits verdreifacht.

Im Idealfall empfindet man Verantwortung für jene Artikel, die man geschrieben oder an denen man mitgearbeitet hat. Denn einen Wikipedia-Artikel schreibt man und überlässt ihn dann nicht einfach sich selbst. Er ist ein Projekt, das immer wieder erneuert werden muss und auf das man auch ein bisschen stolz sein darf, so Plani.

Für Plani ist das Stichwort: Dornbirner Ach. „Eines meiner Frühwerke.“ Drei Wochen lang hat er daran gearbeitet, den Fluss genau zu beschreiben. In keinem Werk sei dieser Fluss je so ausführlich erschienen wie auf Wikipedia, ist der Vorarlberger überzeugt.

Das Schreiben füllt die Leere

„Einen Artikel fertig geschrieben zu haben, fühlt sich gut an. Man weiß, man hat etwas für die Ewigkeit geschrieben“, sagt Plani. Ewigkeit. Ein Wort, das in einem solchen Kontext selten fällt. Und doch ist die Halbwertszeit eines Wikipedia-Artikels verglichen mit der eines Beitrags in den sozialen Medien wahrscheinlich eine Ewigkeit.

Doch die Motivation für Wikipedianer, Artikel zu schreiben, liege tiefer als das Bewusstsein, tatsächlich Geschichte (mit) zu schreiben, findet Plani. „Das Gefühl zu haben, dass es nichts mehr zu schreiben gibt, ist das Schlimmste, was einem Wikipedianer widerfahren kann.“ Natürlich könne man alles bearbeiten, aktualisieren und sicherstellen, dass der neueste Forschungsstand abgebildet werde, doch der eigentliche Reiz sei es, ein neues Thema zu beginnen und es jenen zugänglich zu machen, die es interessiert. Zum Glück sei das immer wieder der Fall. Es passiert ständig etwas in der Politik oder es gibt Neues in der Forschung, über das man schreiben kann. „Das hat schon auch etwas Beruhigendes“, sagt Plani.

Der Mythos Wikipedia ist schwer zu beschreiben. Doch es ist immer noch der Gründungsgedanke, der die größte nicht kommerziell finanzierte Website der Welt am Leben erhält. Es ist die Vision, Wissen zu verbreiten und Aufklärung zu schaffen, die schon seinen Gründer, Jimmy Wales, nicht losgelassen hat und in deren Bann auch Plani gezogen wurde.

Kann ich selbst einen Artikel auf Wikipedia über mich verfassen?

Jein. Die Relevanzkriterien für Personen sind sehr klar definiert. Einen eigenen Eintrag zu verfassen geht nur, wenn bestimmte Kriterien erfüllt werden. Politiker beispielsweise, bekommen nur einen Eintrag, wenn sie hauptamtlicher Bürgermeister in einem Einzugsgebiet von mehr als 20.000 Einwohnern (oder größer) sind oder gewählter Mandatar in einer gesetzgebenden Körperschaft.

Wikimedia – Was ist das?

Wikimedia ist eine gemeinnützige Stiftung mit Hauptsitz in San Francisco. Sie kümmert sich um die Wartung, Instanthaltung und die Autorenakquise von Wikipedia und wird ausschließlich durch Spenden finanziert.

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