Krank vor Hilfe: Co-Abhängigkeit

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Alkoholismus ist eine Familienkrankheit. In Selbsthilfegruppen lernen Angehörige, sich selbst zu befreien – von der Sucht hinter der Sucht. (Von Sonja Pellumbi)

Es herrscht Uneinigkeit in Wien beim offenen Treffen der Selbsthilfegruppen der Anonymen Alkoholiker (AA) und deren Angehörigen (Al-Anon) über die richtige Suchthilfe. Auf den Tischen befinden sich neben Büchern über Alkoholismus mehrere alkoholfreie Getränke wie Wasser, Kaffee oder Tee. Im Pfarrhaus ist es wohlig warm, einige Kerzen brennen. Hannes (Anm. der Redaktion: Alle Namen im Text wurden geändert) ist trockener Alkoholiker und möchte sich mitteilen.

Er spricht von seiner „nassen“ Zeit. Da laut den AA-Mitgliedern Alkoholsucht nicht heilbar ist, benennen sie die Zeit des Trinkens als nasse und die der Nüchternheit als trockene. Für Hannes war Ersteres eine Abwärtsspirale, welche sich zu einem Versteckspiel mit seiner damaligen Freundin entwickelt habe. „Was für ein wahnsinniger Irrsinn“, sagt Hannes. Er ist froh, seinen Tiefpunkt erreicht zu haben, der ihn dazu bewegte, sich zu ändern. Hätte er diesen früher erreicht, gäbe es weniger verschwendete Lebensjahre für ihn. In Bezug auf seine damalige Partnerin sagt er: „Irgendwann habe ich gemerkt: Man soll einem Alkoholiker mehr geben. Ihm alles hinstellen.“

Die Glocken der Kirche beginnen zu läuten. „Noch ein paar Flaschen Schnaps, damit er dann endlich seinen Tiefpunkt erreicht“, präzisiert Hannes, nachdem das Läuten wieder verklungen ist. Annalisa schüttelt den Kopf. „Das stimmt nicht“, murmelt sie und hebt die Hand. Konrad, der dieses Mal an der Reihe ist, das Meeting zu leiten, schreibt ihren Namen auf seine Liste. In der Selbsthilfegruppe wird niemand beim Sprechen unterbrochen. Annalisa ist Angehörige eines Alkoholikers und jahrelanges Mitglied von Al-Anon, der Selbsthilfegruppe für Angehörige von Alkoholkranken. Die Gruppe führt geschlossene Treffen nur für Angehörige sowie auch offene, die mit den AA-Mitgliedern zusammen abgehalten werden. Im Fokus von Al-Anon steht nicht die Alkoholsucht, sondern die Hilfe für Angehörige. Nach vier anderen Teilnehmern ist Annalisa an der Reihe: „Man soll den suchtkranken Menschen sicher nicht die Dinge wegräumen und so die Eigenverantwortung abnehmen. Aber auch keinen Tiefpunkt aktiv herbeiführen“, sagt sie mit ruhiger Stimme. „Es soll alles den Lauf nehmen, wie es kommen soll.“

Leichter gesagt als getan. In Österreich ist Alkohol das Suchtmittel Nummer eins. Mit einem Konsum von 11,6 Litern reinem Alkohol pro Kopf im Jahr 2016 lag das Land unter den Top 15 der am meisten konsumierenden Länder in Europa, laut der Initiative Österreichische Dialogwoche Alkohol. Entwickelt sich der Konsum zum Missbrauch und letztendlich zur Abhängigkeit, belastet es das ganze soziale Umfeld. Nach dem Wiener Suchtklinikum Anton Proksch wird der Alkoholkonsum als missbräuchlich eingestuft, wenn das Trinken eine Funktion übernimmt, zum Beispiel, um Schmerz, Angst oder Stress abzubauen. Eine Abhängigkeit liege dann vor, wenn der Betroffene nicht mehr kontrollieren kann, wann und wie viel er trinkt, und sich ein starker Wunsch bzw. Zwang zum Trinken entwickelt. Geschätzte 340.000 Österreicher gelten derzeit als alkoholabhängig, jeder vierte Erwachsene konsumiere in einem gesundheitsgefährdenden Ausmaß.

Die Suchtentwicklung ist kompliziert, verläuft schleichend und wird häufig begleitet von psychischen Erkrankungen, wie Depression und Angststörung. Nach Angaben der christlichen Suchthilfeorganisation in Österreich, dem Blauen Kreuz, leiden vier bis fünf Angehörige pro Alkoholkrankem unter dessen Sucht. Es entsteht ein sogenanntes Suchtsystem. Familienmitglieder, Freunde oder Kollegen möchten helfen, befinden sich aber oft im Konflikt: Einerseits sehen sie, wie der Betroffene sich mit der Sucht schadet, andererseits möchten sie den Schein bewahren und sich nicht eingestehen, dass wirklich etwas nicht stimmt. Dabei spielt Scham eine große Rolle. „Besser ein stadtbekannter Säufer als ein anonymer Alkoholiker“, meint Ilse, trockene Alkoholikerin und für den AA-Telefondienst zuständig. „Dieses Stigma hängt in Österreich noch immer im Raum.“

Abhängig vom Abhängigen

Die 60-jährige Lydia war nicht bereit, ihren alkoholabhängigen Sohn „im Stich zu lassen“. Sie chauffierte ihn von A nach B, kaufte Essen für ihn ein, lieh ihm Geld und ließ ihn bei sich wohnen. Oft half sie ungefragt. Der 30-Jährige bettelte sie manchmal um Gefälligkeiten an, dann wieder schrie er sie an, er wolle keine Bemutterung. Wenn die Sucht angesprochen wurde, wurde er wütend. Auch Bierdosen habe sie ihm ein paar Male bezahlt, erzählt sie. Das mache sie heute nicht mehr. Der Selbsthilfegruppe für Angehörige stand sie skeptisch gegenüber. Diese folgt dem gleichen Zwölf-Schritte-Programm wie die Anonymen Alkoholiker. Als sie einmal bei einem Treffen war, hat sie sich am ersten Schritt gestoßen. Er steht in der AA-Bibel, dem sogenannten Blauen Buch, auf Seite 68: „1. Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern können.“ Das Buch mit blauem Einband trägt eigentlich den Titel „Anonyme Alkoholiker“ und wurde von den AA-Gründern, William Griffith Wilson und Dr. Robert Holbrook Smith, in den USA 1939 geschrieben. Die Lektüre gilt heute noch als Grundlagentext von AA.

„Klingt für mich wie aufgeben“, sagte Lydia damals und erklärte das Zwölf-Schritte-Programm damit als unbrauchbar. Doch nach wie vor kreisten ihre Gedanken ständig um ihren Sohn und seine Sucht. Andere Themen verblassten neben dem Wunsch, ihn zu retten, und den Schuldgefühlen, die sie beim Scheitern überkamen.

(c) FABRY Clemens

Viele Angehörige kennen diese Verzweiflung. Für die Selbsthilfegruppe ist klar: Das Umfeld wird mitsüchtig. „Die Angehörigen leben nicht mehr ihr eigenes Leben, sondern das Leben der Alkoholiker. Sie sind mehr auf den Alkohol fixiert als der Süchtige selbst. Dieser braucht ihn nur zum Trinken“, sagt Ilse diesbezüglich. Sie steigern sich in Hilfsbemühungen hinein, indem sie in etwa Aufgaben für den Suchtkranken übernehmen. In der Selbsthilfegruppe spricht man hierbei von einer „Co-Abhängigkeit“. In der Suchtforschung ist das ein kontroverser Begriff, weil es keine offiziell anerkannte Störung ist und damit keine klinische Diagnose erfolgen kann. Einige Suchtforscher kritisieren, der Ausdruck stifte mehr Verwirrung als Klarheit, und fordern dazu auf, den Begriff zu vermeiden und stattdessen von „suchtfördendem Verhalten“ zu sprechen.

Für viele Selbsthilfeorganisationen, wie die Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe, hingegen ist die Krankheit klar definiert. Nach ihnen durchlaufen Erkrankte der Co-Abhängigkeit verschiedene Phasen: Zuerst versuchen Angehörige zu beschützen und erklären. Zwar sind sie genervt vom Verhalten des Suchtkranken, aber trotzdem übernehmen sie Verantwortung und finden Entschuldigungen dafür. Die Sucht wird zum Geheimnis der Angehörigen, was zur Isolation führt. In der zweiten Phase rückt die Sucht des Nahestehenden noch stärker ins Zentrum, und das Selbstvertrauen sinkt. Aus Verzweiflung versuchen die Angehörigen, Kontrolle über die Sucht zu gewinnen und den Konsum einzuschränken. Am Ende der seelischen Belastbarkeitsgrenze formt sich eine Wut, die in der Anklage Ausdruck findet.

Zwischen Rettung und Untergang

Die gute Nachricht: Laut Österreichische Dialogwoche Alkohol sinkt der durchschnittliche Alkoholkonsum seit dem Jahr 1993 in Österreich kontinuierlich. Experten erklären den Trend mit einer verstärkten Aufklärung und dem gesellschaftlichen Wandel. Auch eine verstärkte Medienpräsenz des Themas spielt eine Rolle. Wie in etwa bei der Netflix-Serie „BoJack Horseman“, die sich in tragisch-komischer Manier ausgiebig dem Thema Alkoholsucht anhand eines in Vergessenheit geratenen Schauspielers widmet. In einer Folge, die aus einem einzigen Drogenrausch der Hauptfigur besteht, besucht dieser im Vollrausch mehrmals seine Managerin, um sie um Verzeihung zu bitten. Sie antwortet ihm mit einer Anekdote über ihre Ausbildung als Rettungsschwimmerin: „Am ersten Tag meiner Ausbildung sagte mein Ausbilder: ,Es wird der Moment kommen, an dem man jemanden sieht, der in Not ist. Man will sofort losrennen und alles tun, um ihn zu retten. Aber man muss sich selbst zurückhalten, denn manche Menschen kann man einfach nicht retten. Diese Menschen werden um sich schlagen und herumzappeln und versuchen einen mit sich hinunterzuziehen.‘“

Die hier geschilderte Gefahr ist eine reale, vor allem für Laien, die mit notwendigen Befreiungsgriffen nicht vertraut sind. Für sie ist das Risiko hoch, bei einem Rettungsversuch eines Ertrinkenden zu sterben. Dies passiert Rettungsschwimmer Kurt Rath zufolge, weil Menschen, die sich in Not befinden, in Panik geraten. Sie greifen nach allem, was in ihrer Nähe ist, und drücken es hinunter, um sich selbst hochzuziehen. Dieses Phänomen ist so häufig, dass es einen Namen trägt: Avir-Syndrom (aquatic victim instead of rescuer), das „Wasseropfer-statt-Retter-Syndrom“.

Das Gleiche gilt bei Angehörigen: Beim Versuch, den Suchtkranken aus der Sucht zu retten, laufen sie Gefahr, zu Suchtopfern statt Rettern zu werden. Deshalb ist es vorrangig, sich um sich selbst zu kümmern, das unterstreichen Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen und Therapeuten gleichermaßen. So sehr, dass das Schlagwort Selfcare über Hashtags wie „selfcaresunday“, „selflove“ oder „selfcaretips“ auf Social Media großen Anklang findet.

Das Ziel, und gleichzeitig die Kunst, ist laut mehreren Al-Anon-Mitgliedern, die Grenze zwischen sich selbst und den anderen zu finden. Vor allem bei Eltern von Suchtkranken. Letztere fühlen sich zur Versorgung ihres Kindes verpflichtet, wie Lydia. Am schwersten war es für die Mutter, als das Zusammenleben mit dem wohnungslosen Sohn unerträglich wurde und sie darauf bestand, dass er auszog. „Es war sehr schwierig für mich. Ich habe mich schuldig gefühlt und hatte Angst, das Falsche getan zu haben“, sagt Lydia. Viele Alkoholiker geraten in die Wohnungslosigkeit, ihr Sohn hat jedoch inzwischen eine Einzelwohnung gefunden. Nach einer Therapie versucht die Angehörige sich wieder mehr um ihr eigenes Leben zu kümmern, indem sie den Kontakt zu alten Freundinnen aufgenommen hat und ab und zu auf Reisen geht.

Freiwilligkeit statt Zwangskontrolle

Lydias Sohn hat ebenfalls begonnen, etwas zu ändern. Zwar hat sie auf seinen Wunsch hin kaum Kontakt zu ihm, aber über einen Freund des Sohnes hat sie erfahren, dass er seit einigen Monaten nicht mehr trinkt, ohne die Hilfe seiner Mutter. Bei AA-Mitglied Konrad, der seit zwölf Jahren trocken ist, ging es wie bei Lydias Sohn nur auf dem Weg der Freiwilligkeit. Indem er selbst bereit war, etwas zu ändern. Laut den meisten Alkoholikern von AA können Angehörige die Sucht nicht bekämpfen oder die Betroffenen zum Aufhören bringen. Auf Ratschläge oder Kontrollversuche reagierten sie dann oft wie Kinder und tranken aus Trotz mehr. Man dürfe den Suchtkranken nicht die Eigenständigkeit nehmen. Kein Beschönigen der Krankheit, konsequentes Grenzenziehen, über die eigenen Gefühle sprechen ohne Vorwürfe, immer wieder auf Kontaktstellen hinweisen und anbieten, die Betroffenen dorthin zu begleiten. Das können Angehörige Selbsthilfegruppen zufolge für Suchtkranke tun. Alkoholkranke betonen dabei vor allem, dass Angehörige aufhören müssen, das Suchtverhalten der Alkoholiker zu akzeptieren, und stattdessen „die Koffer packen und gehen“ sollen.

Viele AA-Mitglieder, wie Ilse, wissen, dass sie zu einem winzigen Prozentsatz der Alkoholkranken gehören, der sich Hilfe holt. Viele schaffen den Weg in die Trockenheit nicht. Und auch dieser Weg ist laut AA vielfältig. Es kann eine Selbsthilfegruppe oder eine klinische Betreuung zielführend sein. Auch die schwere Entscheidung einer Unterbringung – das bezeichnet das unfreiwillige Einweisen in eine Krankenanstalt – kann manchmal helfen. Erzählungen von Angehörigen zufolge kann diese Maßnahme zu einem unverzeihlichen Vertrauensbruch oder einer nachträglichen Dankbarkeit seitens der Betroffenen führen.

Die Menschen, die sich vor allem in Selbsthilfegruppen Hilfe holen, schätzen dabei den Austausch mit Gleichgesinnten. Die Angehörige Annalisa erzählt bei Treffen von ihrer eigenen „Sucht“, der Co-Abhängigkeit, von der sie loskommen möchte. Sie ist auf der Suche zu sich selbst und versucht ehrlich zu sich zu sein. „Durchs Immer-wieder-zu-mir-Finden werde ich immer weniger süchtig.“ Dabei hilft ihr, mit Menschen darüber zu sprechen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Deshalb engagiert sie sich, wie die anderen Anwesenden, ehrenamtlich in der Gruppe, um das Gelernte nicht zu vergessen. Denn nach einem der vielen positiven Sinnsprüche der AA: Ich kann nur behalten, was ich weitergebe.

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