Der ökonomische Blick

Negativzinsen: Sinn oder Unsinn? Eine Schweizer Perspektive

Reuters
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Jeden Montag präsentiert die „Nationalökonomische Gesellschaft“ in Kooperation mit der „Presse“ aktuelle Themen aus der Sicht von Ökonomen. Heute: Daniel Kaufmann über Geldpolitik.

Bis vor kurzem erachteten die meisten Ökonomen und Zentralbanken deutlich negative Nominalzinsen als ein Ding der Unmöglichkeit. (1) Vor ziemlich genau 5 Jahren belehrte uns die Schweizerische Nationalbank (SNB) eines Besseren indem sie ihren Leitzins auf -0.75% senkte, den tiefsten weltweit. Auch die EZB verfolgt seit 2014 eine Negativzinspolitik. Aber wie genau funktionieren Negativzinsen? Und haben sie die erwünschte Wirkung? Dieser Artikel beleuchtet diese Fragen aus einer Schweizer Perspektive.

Fondue: Eine Schweizer Spezialität

Jedes Land hat seine Spezialitäten. Dies ist bei der Schweizerischen Negativzinspolitik nicht anders. Die SNB erhebt den Negativzins von -0.75% auf den sogenannten Sichtguthaben. Dies sind elektronische Guthaben von Banken, Versicherungen und institutionellen Anlegern bei der SNB. Überraschenderweise fällt der Negativzins nur auf ca. 20% der Sichtguthaben an. (2) Dies reicht bereits aus, um die Geldmarktzinsen, das heisst Zinsen, zu denen sich Banken gegenseitig Geld ausleihen, nahe bei -0.75% zu halten (siehe Grafik).

Jeden Montag gestaltet die „Nationalökonomische Gesellschaft" (NOeG) in Kooperation mit der "Presse" einen Blog-Beitrag zu einem aktuellen ökonomischen Thema. Die NOeG ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften.

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Der Grund ist, dass dieser Freibetrag pro Bank, zumindest in der kurzen Frist, fix ist. (3) Zwar kann eine Bank versuchen, auf dem Geldmarkt ihre Sichtguthaben auszuleihen um den Betrag zu reduzieren auf dem sie Negativzinsen zahlen muss. Die anderen Banken sind jedoch nicht bereit diese Sichtguthaben anzunehmen, ohne entschädigt zu werden. Denn: sie müssen diese zusätzlichen Sichtguthaben ebenfalls bei der SNB anlegen – und zwar zu -0.75% – und somit ihrerseits mehr Negativzinsen zahlen. Somit findet die Transaktion also nur statt, wenn der Geldmarktzins die Entschädigung um das Geld anzunehmen, auch etwa um -0.75% liegt.

Die Höhe des Freibetrags sollte also für das Niveau der Geldmarktzinsen keine grosse Rolle spielen. Dies sah man, als die SNB im November 2019 den Freibetrag deutlich grosszügiger ausgestaltet hatte. (4) Die Geldmarktzinsen verharrten nahe bei -0.75%, obwohl ein kleiner Ausschlag nach oben zu beobachten war (siehe Grafik). (5)

Aber könnten die Banken die Sichtguthaben nicht einfach in Bargeld umwandeln? Nein, aufgrund einer bemerkenswerten Innovation der SNB. Der Freibetrag wird nämlich reduziert, sobald eine Bank ihre Sichtguthaben in Bargeld tauschen will. Dadurch wird derjenige Teil, der durch Bargeld ersetzt wird, wiederum negativzinspflichtig. (6)

Alpabzug: Folgen die Kühe dem Bauern oder umgekehrt?

Wer schon einmal einen Alpabzug gesehen hat, weiss, dass die Kühe zuweilen eigene Ideen entwickeln, wann und wo sie die Alp verlassen möchten. Ähnlich ist es auch in der Geldpolitik. Zwar können Zentralbanken die Leitzinsen jederzeit senken. Eine ganz andere Frage ist, ob wirtschaftlich relevante Zinsen darauf auch reagieren. (7)

Dazu habe ich die Transmission von Zinssenkungen auf unterschiedliche Zinsen in der Schweiz betrachtet. (8) Die Tabelle zeigt, wie sich eine Zinsänderung im positiven Bereich (von 2.75% auf 0.5% 2008/2009) im Vergleich zu einer Zinsänderung im negativen Bereich (von 0% auf -0.75% 2014/2015) auswirkt. Da die Zinssenkung 2008/2009 stärker war, zeigt die Tabelle die Veränderung verschiedener Zinsen im Verhältnis zur Leitzinsveränderung. Ein Wert von 1 bedeutet, dass die Zinsen gleich stark wie der Leitzins gefallen sind. Ein Wert von 0 bedeutet, dass die Zinsen überhaupt nicht reagiert haben.

Kaufmann

Für Geldmarktzinsen und Staatsanleihen beobachten wir in beiden Perioden eine ähnliche und starke Reaktion. Diese Zinsen sanken in beiden Perioden praktisch im Gleichschritt mit dem Leitzins.

Auf Kreditzinsen und Zinsen für Bankeinlagen werden Zinsänderungen im negativen Bereich jedoch kaum übertragen. Dies widerspricht der weit verbreiteten Meinung, dass Sparer stark unter den Negativzinsen leiden, Schuldner dafür profitieren. Im Vergleich zu Zinssenkungen im positiven Bereich haben Schuldner weniger profitiert, Sparer wurden aber auch weniger zur Kasse gebeten. (9) Die Ausnahme bilden Zahlungskonten, auf denen die Zinsen bereits 2008/2009 praktisch bei 0% angelangt waren und somit schon damals kaum reagierten.

Schliesslich ist es interessant, Zinsen für Firmenanleihen zu betrachten. Die Reaktion war im negativen Bereich stärker als im positiven Bereich (mit Ausnahme von Bankanleihen). Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass während der Finanzkrise die Risikoprämien auf Schweizer Firmenanleihen angestiegen sind. Somit hat sich die Leitzinssenkung kaum übertragen.

Ein weiterer Grund könnte jedoch sein, dass im Januar 2015 die Inflationserwartungen, und somit die langfristigen Nominalzinsen, gefallen sind. Im Januar 2015 gab die SNB ein Wechselkursziel gegenüber dem Euro auf. Die darauffolgende starke Aufwertung führte zu erneuten deflationären Tendenzen. Tatsächlich deutet die starke Reaktion der Zinsen für ausländische Firmen, die Anleihen in Schweizer Franken ausgeben, auf rückläufige Inflationserwartungen hin. (10)

Die Schweiz: Ein Vorbild?

Die Erfahrung der SNB während der letzten 5 Jahren zeigt: deutlich negative Geldmarktzinsen sind möglich. Deren Wirkung auf andere Zinsen ist jedoch sehr heterogen und nicht unbedingt vergleichbar mit früheren Leitzinssenkungen. Auch wenn der Leitzins fällt, bedeutet dies nicht, dass andere Zinsen auch folgen. Negativzinsen allein dürften daher nicht genügen, um die Schweizerische Wirtschaft in der nächsten Rezession zu stabilisieren.

Der Autor

Daniel Kaufmann (*1981 in Bern) ist Assistenzprofessor in angewandter Makroökonomie am Institute of Economic Research an der Universität Neuchâtel. Schwerpunkte seiner Forschungstätigkeit sind Geldpolitik, Inflation, und Wirtschaftsgeschichte.

Daniel Kaufmann
Daniel Kaufmann

Fußnoten

1 Die SNB argumentierte zum Beispiel, ein negativer Dreimonats-LIBOR (ein kurfristiger Geldmarktzins) «[…] is not technically possible» (www.snb.ch/en/mmr/reference/pre_20090312/source/pre_20090312.en.pdf).

2 Siehe dazu www.credit-suisse.com/media/assets/private-banking/docs/ch/unternehmen/unternehmen-unternehmer/publikationen/monitor-schweiz-q4-2019-de.pdf

3 Siehe dazu www.snb.ch/de/mmr/speeches/id/ref_20150326_mo/source/ref_20150326_mo.de.pdf

4 Siehe dazu www.credit-suisse.com/media/assets/private-banking/docs/ch/unternehmen/unternehmen-unternehmer/publikationen/monitor-schweiz-q4-2019-de.pdf

5 Die SNB hat zu dieser Zeit vermehrt Liquidität zur Verfügung gestellt um die Zinsen wieder zu reduzieren. Nach eigenen Angaben war sie «punktuell» am Repomarkt aktiv. Siehe www.snb.ch/de/mmr/speeches/id/ref_20191212_amr/source/ref_20191212_amr.de.pdf

6 Siehe dazu den Artikel von Fabio Canetg verfügbar unter www.swissinfo.ch/ger/wirtschaft/geldpolitik_leitzins-limbo--die-nationalbank-kann-noch-viel-tiefer/45209874

7 Wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema finden sie unter www.bis.org/publ/qtrpdf/r_qt1603e.htm, https://www.nber.org/papers/w24039

8 Hier klammere ich bewusst aus, dass die SNB durch die Negativzinsen eine übermässige Aufwertung des Schweizer Frankens vermeiden will. Dies zu analysieren würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.

9 Zinsen für Kontokorrentkredite und Investitionskredite sind vor 2009 nicht verfügbar.

10 Dieses Argument folgt Fabio Canetg und Daniel Kaufmann, 2019. "Shocking Interest Rate Floors," IRENE Working Papers 19-02, IRENE Institute of Economic Research; in diesem Paper verwenden wir die Zinsen aus CHF Anleihen von ausländischen Firmen, um Inflationserwartungen zu approximieren. Ein Rückgang der Inflationserwartungen im Januar 2015 ist auch in der Ökonomenumfrage KOF Consensus Forecast sichtbar (kof.ethz.ch/umfragen/oekonomenumfragen/kof-consensus-forecast.html).

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