Amanshausers Album

Alles verschlafen

Fensterplatz. Schön, wenn der
Fensterplatz. Schön, wenn der (c) Getty Images/iStockphoto (Meinzahn)
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Der Busschläfer gerät allzu rasch in Kritik, der Flugzeugschläfer genießt soziale Anerkennung.

Vor Gruppenreisen ist mir manchmal etwas mulmig. Werden sie wieder über mich lachen? Ich bin ein hoffnungsloser Busschläfer. Kaum lässt der Fahrer den Motor an, überflutet mich ein Gefühl der Zufriedenheit – ich versinke in Träumen. Besonders bei älteren Busmodellen stellt sich dieser Effekt verlässlich in den ersten Minuten ein. „Schaut’s, der Martin schläft schon", höre ich noch gedämpft. Die Stimme des Reiseleiters bildet die monotone Hintergrundmusik. Mein Kopf lehnt an der kühlen Scheibe. Bei Erschütterungen zieht er sich zurück und nickt fortan sanft im Takt der Reise.

Erst mit dem schmerzhaft jähen Ende der Vibrationen, Knüffe, Soundeffekte zerreißt der Schlaf. Oh, wir kommen an. Langsam löse ich mich aus der Traumwelt. Auf welchem Kontinent, in welchem Jahrzehnt befinden wir uns? „Aussteigen, Martin, auf, auf!" Ich taumle los, vergesse Dinge (Sonnencreme, Pullover, Kapperl), rätsle über Wochentag und Programmverlauf. Die Mitreisenden: „Der Martin hat alles verschlafen, hahaha!" Dabei unterschätzen sie meine Nachtaktivität: das Schreiben
bitterböser Texte über aggressiv vitale Touris ohne Hang zum Schlummer­anfall.

Mein Flugzeugschlaf ist sozial um ein Vielfaches anerkannter. Kaum setzt
sich die Maschine in Bewegung, verfalle ich in Amnesie. Den Start verpasse ich ebenso wie die Ausblicke auf Copacabana, Mount Everest oder die Gewächshäuserlandschaft Almerias. Mein Kopf lehnt am Plexiglas – ich buche immer Fensterplätze –, sitzt fest auf dem Nacken und ist nicht einmal durch „Chicken or Beef?" zu aktivieren. Oft weckt mich erst der Polterer, mit dem der ­Flieger auf die Landebahn knallt. Andere Passagiere haben in der Zwischenzeit Plastikgefäße leerdiniert, Spitzenweine getrunken, überteuerten Ramsch erworben, die tollsten Cumuluswolken oder „Independence Day" gesehen. Vereinzelt registriert jemand mein Erwachen, doch keiner lästert: „Auf, auf, Martin, hahaha!" Leider lässt die Schlafmütze, die ich bin, auch hier habituell diverse Gegenstände (Lieblingsbuch, Flugtickets, Fotoapparat) in der Tasche des Vordersitzes liegen.

www.amanshauser.at

("Die Presse - Schaufenster", Print-Ausgabe, 24.01.2020)

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