Die Ich-Pleite

10.000-Schritte-Anhänger

(c) Carolina Frank
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Als 10.000-Schritte-Anhänger muss man auf nichts verzichten. Man kann weiterhin seinen Schweinsbraten essen, wenn nur das Wirtshaus weit genug weg ist und man zu Fuß hingeht.

Ich fürchte, an der Spazierunwilligkeit einer Paarhälfte sind schon mehr Ehen zerbrochen als an der Müll-hinuntertrag-Unwilligkeit. Obwohl diese auch nicht unproblematisch ist. Aber zumindest Ersteres hat jetzt ein Ende. Denn Wissenschaftler haben die gesundheitsfördernde Wirkung des Gehens entdeckt. Wer täglich 10.000 Schritte macht, verlängert sein Leben. Zufällig ist gleichzeitig eine Schritte-Zähl-App auf unserem Smartphone aufgetaucht. Das ist gut, denn die App erwischt uns bei unserem Spieltrieb. Gerade die spazierunwillige Paarhälfte. So werden aus eisernen Couchpotatoes über Nacht leidenschaftliche Sonntagsspaziergänger. Vielleicht sogar geduldige Shoppingbegleiter, vorausgesetzt, der Einkauf führt in viele Geschäfte und bietet genug Gelegenheit, vor den Umkleidekabinen hin- und herzugehen. Ich habe mit eigenen Augen Menschen ihr Sofa verlassen sehen, die sich normalerweise nicht einmal gerührt hätten, wenn ein Erdbeben nachgeholfen hätte. Jetzt gehen sie freiwillig einkaufen oder mit dem Hund Gassi, wenn die Schritte-Zähl-App erst 6231 Schritte anzeigt. Als 10.000-Schritte-Anhänger muss man auf nichts verzichten. Man kann weiterhin seinen Schweinsbraten essen, wenn nur das Wirtshaus weit genug weg ist und man zu Fuß hingeht. Aber auch diejenigen, denen es jetzt draußen zu ungemütlich ist, können Schritte zählen. Man kann ja 100 Mal zwischen Bett und Kühlschrank hin- und hergehen. Wer keine Tasche fürs Handy im Pyjama hat, hängt sich eine Bauchtasche um. Der App ist es egal, womit man seine Schritte hinaufscort. Nur eines darf einem halt besser nicht passieren: Dass man das Handy nicht einsteckt. Denn dann kann die angeborene Spazierunwilligkeit ganz schnell wieder akut werden.

("Die Presse - Schaufenster", Print-Ausgabe, 24.01.2020)

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