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Das Rote Wien: Die elektrisierte Stadt

Bücher, Karten, Strategien: Architekturhistoriker Harald Stühlinger in der Ausstellung „Rotes Wien publiziert“.
Bücher, Karten, Strategien: Architekturhistoriker Harald Stühlinger in der Ausstellung „Rotes Wien publiziert“.(c) Dimo Dimov
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Ein Spaziergang zwischen Bucheinbänden, auf Stadtplänen und in Fotoarchiven: Architekt und Autor Harald Stühlinger über das Rote Wien, seine Bauten und Publikationen.

Harald Stühlinger bewegt sich gewandt durch eine Stadt, die nicht mehr ist – und dennoch existiert: Das Rote Wien der Zwischenkriegszeit mit dem Wohnbau- und Sozialprogramm, wie es damals in Büchern, Gemeindebau-Broschüren, Kindergarten-Plänen, Architektur-Plakaten oder Städtebau-Ausstellungen dokumentiert wurde. „Seit meinem Studium in Wien haben mich die Publikationen und Kampagnen fasziniert“, erzählt der aus der Steiermark stammende, als Dozent für Architektur-, Bau- und Städtebaugeschichte an der FHNW Muttenz (Schweiz) tätige Architekt. Seine Faszination hat ihn als Kurator der Schau „Rotes Wien publiziert“ – die zeitgleich mit der Schau „Das rote Wien“ im Musa gegenüber läuft – wieder nach Wien geführt. Zu sehen sind Bücher, Broschüren, Poster, Pläne, Karten und Filme – und deren Bedeutung im internationalen Kontext. „Wien hat die Wohnbau- und Infrastruktur-Strategie als Werbung genutzt und zu fast jedem Gemeindebau, Schwimmbad, Kindergarten eine Broschüre veröffentlicht“ erklärt Stühlinger.

Superblock trifft Gartenstadt

Die 13 Jahre in Wien möchte er nicht missen, „und eigentlich würde ich ganz gern wieder kommen“. Favoriten, Wieden und Döbling hießen die Wohn-Stationen – in einem Gemeindebau befanden sich die eigenen vier Wände nie. „Das hat sich nie ergeben.“ Dennoch gibt es einen Lieblings-Gemeindebau: Den Sandleitenhof. „Hier treffen die Konzepte von Superblock und Gartenstadt aufeinander, es gibt eine umfassende Infrastruktur wie Kino, Bäckerei und Kindergarten im Quartier.“ Nicht nur 60.000 Wohnungen wurden gebaut und öffentlichkeitswirksam eröffnet, mit Kindergärten Schwimmbädern, Spitälern und Parks, auch das gesundheitliche und soziale Leben verändert. Dazu kam der Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes und seine Elektrifizierung – etwa der Stadtbahn 1925, die am 3. Juni in der Station Alser Straße eröffnet wurde. Die Publikation dazu nennt sich leicht pathetisch „Die elektrisierte Stadt“. Dennoch dürfte der Titel die damalige Stimmung wiedergeben. „In den 30er-Jahren wurde ja eigentlich nur vollendet, was zuvor begonnen wurde. In den 20er-Jahren war daher der Output enorm. Wir profitieren ja noch 100 Jahre später von dieser entschlossenen und stabilen Stadtplanung“, meint Stühlinger.

Namenlose Kunstschaffende

In Städten wie Berlin oder Hamburg wurden damals noch mehr Sozial-Wohnungen gebaut, allerdings war es nur in Wien die Stadt selbst, die als Finanzier, Planer, Bauherr und Vermieter auftrat. „Für die Recherche nach dem Ablauf, den Machern war dieses Konzept extrem hinderlich“, berichtet Stühlinger. „Überall steht die Stadt als Verantwortliche – das war's“. Die Gemeindebauten – oder deren Präsentation – waren so überzeugend, dass sie in touristische Stadtführungen einbezogen wurden, es gab Ansichtskarten-Serien der Stadt, von Fotoverlagen, Trafikanten, sogar die Firma Dr. Oetker brachte eine Serie heraus. Und es gab die großen Veranstaltungen wie das Internationale sozialistische Jugendtreffen, zu dem mit diversen Medien geladen wurde.

Auch das „60.000 sind gebaut, 80.000 sollen es werden“-Plakat samt Gemeindebauten-Kollage ist in der Schau zu sehen. „Ich habe ewig nicht herausgefunden, welcher Gemeindebau da im Vordergrund oben rechts ist“, berichtet Stühlinger. Erst kurz vor der Eröffnung fand er die Lösung in der Zeitschrift „Der Kuckuck“: Der Indianer-Hof in Meidling, „perspektivisch aufgeblasen und schwer zu erkennen“. Der Name stammt von einer Keramikfigur über dem Eingang – einem Indianer. Der Künstler ist ebenso unbekannt wie die Intention des Werks. Gut erhalten ist er dennoch.

Zum Ort, zur Person

Als Rotes Wien gilt die sozialistisch regierte Stadt 1919 bis 1934, die über 60.000 Gemeindewohnungen samt Infrastruktur errichtete – darüber publizierte sowie zu internationalen Stadtplanertreffen lud. Eine Gemeindebauwohnung kostet heute je nach Kategorie und Größe ab 300 Euro.

Harald Stühlinger schuf mit seiner Sammlung die Basis für die bis 31. Juli laufende Schau in der Wienbibliothek. Am 22. Juni erscheint sein Buch „Rotes Wien publiziert“. www.wienbibliothek.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2020)

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