Die Beruhigung aus dem Netz

Das Geräusch, wenn Finger über etwas streichen, ist für viele Menschen angenehm. So angenehm, dass es jetzt Tausende Videos dazu gibt.
Das Geräusch, wenn Finger über etwas streichen, ist für viele Menschen angenehm. So angenehm, dass es jetzt Tausende Videos dazu gibt.(c) Youtube
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Sie zeigen Smarties im Wasser oder Menschen, die Honigwaben essen. Seltsam unaufgeregte Videos oder Audios mit Alltagsklang wirken entspannend für Millionen Menschen. Was ist da los?

Es ist eigentlich völlig absurd. Aber man fühlt richtig, wie sich das Gehirn entspannt. Die Stirn wird auf einmal schwerer, die Augenbrauen senken sich in Richtung Augen. Die Umgebungsgeräusche werden leiser, denn alles, was man tun will, ist auf den Schirm zu starren und sich diesen angenehmen Bildern hinzugeben. Es ist schwer, aufzuhören.

Dabei ist das, was man sieht, eigentlich eine totale Beleidigung für jedes gebildete Gehirn. Da erscheint vor einem ein Teller mit Smarties, die in einem Kreis aufgelegt sind. Dann schüttet jemand Wasser in den Kreis und wir sehen dabei zu, wie sich die Farben langsam aus den Zuckerln lösen und die Flüssigkeit wie eine Art Blume färben. Im nächsten Clip sieht man einen großen Donut, der wohl aus Ton ist. Eine Hand drückt langsam auf das Gebilde, bis es aufplatzt. Im nächsten Clip sieht man eine Schere, die einen laufenden Wasserstrahl „durchschneidet“, wobei der Strahl beim Schnitt plötzlich gefriert.

Das hört sich nicht nur komisch an, das ist auch komisch – und trotzdem kann man sich schwer dieser unglaublich beruhigenden Wirkung entziehen, die diese Videos laut Experten tatsächlich auf einen haben.
Videos dieser Art fallen unter das Phänomen „Oddly Satisfying Video“, und es gibt davon nicht nur Hunderttausende auf YouTube, sie werden auch millionenfach angesehen. Da werden Torten dekoriert, Finger in Farben und zähe Flüssigkeiten getaucht, sogar zerknitterte Dollarnoten mit dem Glätteisen geglättet. Der Effekt ist immer der Gleiche: Entspannung, ein angenehmer Kick im Gehirn. Nicht umsonst vergleicht David Daniel Ebert, Professor für Klinische Psychologie an der Freien Universität Amsterdam, diese Videos in einem Interview mit der Nachrichtenagentur APA als Achtsamkeitsübungen (was mit Meditation gleichzusetzen ist) und als eine Art Schäfchenzählen (freilich ein virtuelles). Studien dazu gibt es noch nicht. Aber laut Ebert dienen diese Videos als Pausen vom digitalen Alltag, der uns im durch zahllose Informationen häufig übermäßig stimuliere.

Für den Trendforscher Ulrich Köhler liegt der Reiz der Videos in der manuellen Tätigkeit, die dort oft gezeigt wird. Das sei die Sehnsucht nach dem echten Erlebnis in einer zusehends digitalen Welt, so Köhler.

Platzende Luftpolsterfolie

Fest steht, die Videos sind nicht die einzigen. Es gibt quasi ein Pendant dazu für die Ohren; ASMR, das für „Autonomous Sensory Meridian Response“ steht. Dabei geht es um Geräusche, die entspannen sollen. Wie das berühmte Zerplatzen von Luftpolsterfolie, das Rascheln von Verpackung, Finger, die über Mikrofone streichen. Alles befriedigend für das Gehirn. Nicht umsonst suchten User, als das Wort ASMR noch nicht (so) bekannt war, unter der Bezeichnung „Brain-gasm“ solche Videos im Netz.

Das Wort selbst hat laut „New York Times“ die Amerikanerin Jennifer Allen erfunden (um nicht mehr das schlimme „Brain-gasm“ verwenden zu müssen) und es über Social Media verbreitet. Sie war dann selbst überrascht, dass so viele Menschen auf die gleichen Reize reagieren wie sie. Heutzutage werden fast 500 solcher Videos pro Tag auf YouTube hochgeladen, die meisten offenbar von Frauen und Mädchen. Einmal sind es bunte Seifenraspeln, die zerbrochen werden (Ja, dieses Knacken klingt sehr angenehm), einmal schaut man Menschen zu, die Honigwaben und panierte Chickenwings (!) essen. Sieht man sich die Videos an, greift man sich freilich an den Kopf. Was tut man denn da? Bis man die Kopfhörer aufsetzt und sich den Kau- und Mahlgeräuschen hingibt. (Ja, das funktioniert.)

Mittlerweile gibt es eigene YouTube-Stars, die damit ihr Geld verdienen: Gibi ASMR (2,44 Mio. Abonnenten) oder Heather Feather ASMR (518.000 Abonnenten) etwa. Auch dieses Phänomen ist kaum erforscht, allerdings trägt Craig Richard, Professor an der Shenandoah University in Virginia, der sich bereits seit 2013 mit dem Thema befasst, auf der Webseite ASMRUniversity.com alle möglichen Daten und Studien zu dem Thema zusammen und führt dort selbst Umfragen durch. Die großen Studien stehen noch aus, aber alles deutet darauf hin, dass ASMR sehr wohl einen Einfluss auf unsere Psyche hat. So soll das Phänomen unseren Herzschlag verlangsamen und damit stressreduzierend und entspannend wirken – und bei manchen Menschen wirklich den Schlaf fördern.

Obsessive Anhänger

Das trägt zum Erfolg von ASMR-Influencern bei, aber auch zu ihrem Leid. Denn diese hätten, wie die „New York Times“ berichtete, auch vermehrt mit Stalkern zu kämpfen. Gibi ASMR dürfte ob ihrer angenehmen Stimme und ihrer Fähigkeit, Videos für die Sinne zu produzieren, jedenfalls schon ein paar Mal die Bekanntschaft von obsessiven Fans gemacht haben. Freilich, die Mehrheit repräsentieren sie nicht. Außerdem reagieren nicht alle gleich auf die Videos. Während die einen Heather Feathers Stimme lieben, ist sie anderen wohl zu künstlich piepsig.

Und dann gibt es freilich zu jedem Phänomen ein Gegenphänomen. Nämlich die „Unsatisfying Videos“, die Situationen zeigen, die sich nicht befriedigend auflösen. Tortenstücke, die ungleich geschnitten werden, ein Baustein-Turm, der nur teilweise und nicht ganz zusammenfällt.
Ein Kribbeln auf der Haut erzugen auch diese Videos – weil man sich doch etwas ärgern muss.

Fakten:

Phänomen.
„Oddly Satisfying Videos“ oder ASMR heißen die Videos, die mit Bildern oder Geräuschen Augen oder Ohren ansprechen und eine beruhigende oder angenehme Wirkung auf einen haben. Das Phänomen ist noch relativ neu und unerforscht. Trotzdem findet man dazu Hunderttausende Videos auf YouTube, die millionenfach schon angesehen wurden.


Influencer.
Mittlerweile gibt es schon Kanäle und Influencer auf YouTube, die sich nur auf solche Videos spezialisiert haben. Unter ihnen Gibi ASMR oder Heather Feather ASMR.

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