Die Ich-Pleite

Alltagsdoping

(c) Carolina Frank
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Wer von uns nimmt nicht jeden Tag Substanzen zu sich, um als Erster ans Ziel zu kommen.

Mir tun all die gesperrten Rad­profis und Langlaufhoffnungen leid. Wenn sie vor einem Wettkampf ihr Blut ein bisschen vermehren, zeigt gleich die ganze Welt auf sie und ruft: „Doping!" Dabei ist fast jeder Dritte ein „Alltagsdoper", sagen Suchtmittelexperten. Stimmt! Wer von uns nimmt nicht jeden Tag Substanzen zu sich, um als Erster ans Ziel zu kommen! Zum Beispiel in die Chefetage. Oder zumindest aus dem „Mitarbeitergespräch" heraus, ohne in Tränen auszubrechen. Das fängt beim morgendlichen Superfood-Vitamincocktail an und endet beim nächtlichen Caipirinha-Rausch. Wer morgens ohne Coffee-to-go-Becher in der U-Bahn sitzt, ist entweder arbeitslos oder magenkrank, und eine Werbeagentur wäre ohne den allgegenwärtigen Geruch des taurinhaltigen Aufputschgetränks gar nicht denkbar. Aber natürlich, die Gefinkelteren unter uns tragen die Dose und den Becher nur mehr zur Tarnung. Enhancementmäßig sind sie nämlich längst einen Schritt weiter.
In Deutschland traut sich angeblich ohne Gehirndoping in Pillenform kaum mehr jemand auf eine Uni. Und wenn der Chef vielleicht ein Algorithmus ist, kann man sich auch kein nachmittägliches Biotief mehr leisten. Klar, dass man am Abend dann einen Downer braucht. Dabei ist natürlich nicht das Gespons gemeint, das einen mit einem „Du hast schon wieder nicht den Geschirrspüler eingeräumt!" begrüßt oder mit einem ­seligen Schnarchen, und auch nicht die 375 Schulaufgaben des Nachwuchses, obwohl einen das auch auf den Boden holen kann, sondern die Beruhigungspille, das Hanfprodukt oder die Entspannung aus der Flasche. Frauen sollen übrigens vom Alltagsdoping stärker betroffen sein als ­Männer, sagen die Experten. ­Interessant.

("Die Presse - Schaufenster", Print-Ausgabe, 31.01.2020)

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