Chemie

Mit unflexiblen Molekülen Wirkstoffe entwickeln

Wirkstoffe funktionieren nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip.
Wirkstoffe funktionieren nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip.(c) imago stock&people (imago stock&people)
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Ein neues Christian-Doppler-Labor in der Uni Wien erschafft Arzneien für Erkrankungen, die bisher als nicht behandelbar galten. Die neuen Moleküle sollen starr sein, um wie ein Schlüssel ins Schloss der Rezeptoren zu passen.

Ein Bauwerk, das zu locker gebaut ist, neigt zur Instabilität und folgt dem physikalischen Grundsatz der Entropie: Es strebt nach Unordnung, verformt sich oder bricht im schlimmsten Fall zusammen. Der Begriff der Entropie, der vereinfacht mit Unordnung übersetzt wird, wurde vom österreichischen Physiker Ludwig Boltzmann geprägt: In einem geschlossenen System nimmt die Entropie immer zu – und das gilt nicht nur für die Zimmer von Jugendlichen.

Dieses Prinzip wirkt genauso auf ganz kleine Bestandteile unserer Welt: Atome und Moleküle. „Wenn man ein Molekül mit seinen atomaren Bindungen auf Papier zeichnet, sieht es sehr starr aus“, erzählt Nuno Maulide, der das Institut für Organische Chemie der Uni Wien leitet. Aber in Wahrheit sind Moleküle eher wackelig und können sich verformen. „Denn jede Bindung zwischen zwei Atomen hat einen gewissen Grad an Flexibilität“, so Maulide. Moleküle sind zwar nicht ganz so formbar wie Plastilin, aber doch so flexibel wie ein locker verschraubtes Matador. Und genau dieser Grad an Flexibilität stellt für Forscher eine Hürde dar, wenn sie neue Arzneien designen.

Flexibler Schlüssel passt nicht

Wirkstoffe funktionieren nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip: Kennt man den Rezeptor (das Schloss) einer Tumorzelle oder eines Krankheitserregers, die bzw. den man bekämpfen will, muss man einen passgenauen Schlüssel (Medikament) in diesen Rezeptor stecken, damit die gewünschte Wirkung genau dort und sonst nirgends in Gang gesetzt wird. „Wenn der Schlüssel aber flexibel ist, und seine Form verändert, dann passt er nicht mehr gut in das Schloss: Der Wirkstoff kann also nicht effizient an den gewünschten Zielort andocken“, erklärt Maulide.

Sein Team ist spezialisiert auf das Design von neuartigen Molekülen und komplexen Naturstoffen und hat nun mit dem Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim ein Christian-Doppler-Labor gegründet, das für sieben Jahre laufen wird.

„Christian Doppler Labor für Entropieorientiertes Wirkstoff-Design“ lautet der Name, und das Ziel ist, neue Arzneien dem Einfluss der Entropie zu entziehen. Die im Labor erschaffenen Moleküle sollen so starr wie möglich sein, keine wackeligen Atombindungen haben, sondern wie ein aus Stahl gegossener Schlüssel halten.

„Eine einfache Bindung zwischen zwei Atomen kann frei rotieren, aber eine Doppelbindung ist schon etwas stabiler. Noch starrer sind geschlossene Ringsysteme“, zählt Maulide die Möglichkeiten auf, Moleküle unflexibler zu machen. Er bezeichnet die Kooperation mit dem Pharmaunternehmen als „Traumhochzeit“, denn die universitären Forscher und die industriellen Entwickler brauchen sich gegenseitig, um neue Medikamente zu kreieren. „Die Möglichkeit, strukturbasiert am Computer Moleküle zu entwerfen, haben wir an der Universität nicht in dieser Weise. Hingegen hat das Pharmaunternehmen nicht die Kapazitäten für die vielstufige Synthese dieser neuartigen starren Molekülstrukturen.“

Künstliche Intelligenz

Die Computermodelle der Pharmaforscher erstellen mit künstlicher Intelligenz Wunschmoleküle, die wie dreidimensionale „Tetris“-Bausteine in Rezeptoren von Krebszellen passen sollen. Das Team der Universität Wien versucht, mit neuen Synthesemethoden den gewünschten Schlüssel so starr wie möglich zu bauen.

„Unser Ziel sind Protein-Familien, die seit Jahrzehnten als ,undruggable‘ gelten: Die Schlösser kennt man schon lang, aber bisher hat niemand den passenden Schlüssel gefunden.“ Gelingt es den Chemikern, starre neue Passformen zu erschaffen, können die Partner der Pharmaindustrie die erhoffte Wirksamkeit gegen bisher unbehandelbare Erkrankungen in klinischen Tests untersuchen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2020)

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