Medienwissenschaft

Das Spektakel des – nur vordergründig – Gewöhnlichen

Reality-TV hat sich seit den 1980er-Jahren global verbreitet.
Reality-TV hat sich seit den 1980er-Jahren global verbreitet.(c) imago images/Schöning (via www.imago-images.de)
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Was Reality-Fernsehen sehenswert macht und warum die Trennung zwischen Trash- und Quality-TV in Feuilleton und Wissenschaft wenig zielführend ist, zeigt die Medienwissenschaftlerin Andrea Seier von der Universität Wien in ihrem neuesten Buch auf.

Reality-TV ist in der gegenwärtigen Fernsehkritik Sinnbild für die sinkende Qualität auf heimischen Bildschirmen schlechthin. Im Gegensatz dazu wird im Bereich der Dramaserien das neue Niveau des Massenmediums gefeiert. Und freilich, man kann die spezifischen und regelrecht explodierenden Reality-Formate als schlechtes Fernsehen abkanzeln. Oder aber sie als ein Symptom für gesellschaftliche Wandlungsprozesse verstehen, nach diskursiven Schnittstellen suchen und größer angelegte Zeitdiagnosen vornehmen.

Reality-TV hat sich seit den 1980er-Jahren global verbreitet. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich neben Casting-Shows und Doku-Soaps sogenannte Lifestyle-Formate, in denen nicht nur Häuser und Gärten („Einsatz in vier Wänden“) begutachtet und transformiert werden, sondern auch Liebes- und Familienbeziehungen („Das Model und der Freak“), Essgewohnheiten („Besser essen“) und Körper („The Swan – Endlich schön“). „Einrichtungs- und Kleidungsstil, psychologische Befindlichkeiten und Beschäftigungsverhältnisse werden in ein Vorher-nachher-Muster überführt“, erklärt die Medienwissenschaftlerin Andrea Seier vom Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Uni Wien, die zur Kulturgeschichte audiovisueller Medien und zu den darin verhandelten Geschlechter-, Klassen-, Selbst- und Weltverhältnisse forscht.

In den Lifestyle-Formaten steht nicht das Spektakel und die Ausnahme im Fokus, stattdessen das Gewöhnliche und Alltägliche. So zumindest ihr Versprechen. Seier: „Spektakuläre Umgestaltungsprozesse oder soziale Experimente, die familiäre Gefüge dysfunktional werden lassen, stellen – jedenfalls aus Sicht der Kandidatinnen und Kandidaten – alles andere als eine Alltagssituation dar.“ Die Wege zwischen dem Vorher und dem Nachher variieren. Gezeigt werden märchenhaft inszenierte Veränderungen genauso wie Selbstdisziplin erfordernde Wandlungsprozesse. Seier hat in dem Zusammenhang die Programmatik eines Fernsehens der Mikropolitiken entwickelt. „Die momentan zu beobachtende Resignifizierung von Alltagshandlungen im Fernsehen geht über den Aspekt der Stilisierung und Ästhetisierung weit hinaus“, schreibt sie in ihrem jüngsten Buch „Mikropolitik der Medien“. Sie verweist bei ihrer Betrachtung von Reality-Formaten, YouTube-Videos, Lifestyle-Magazinen und Dokumentarfilmen auf die in den späten 1960er-Jahren etablierte Prämisse vom Privaten, das immer politisch sei. Demnach findet Politik nicht nur auf den Makroebenen Staat und Parteien statt, sondern auch im privaten Bereich in Form von sich wiederholenden Alltagspraktiken.

»"Fernsehen arbeitet an den Wissensbeständen über soziale Hierarchien und Lebensstile mit."«

Andrea Seier, Medienwissenschaftlerin

Haushalt als Probebühne

Mit dem Reality-TV wurde Fernsehen plötzlich durchlässig für Angehörige verschiedener sozialer Milieus – darunter auch jene, die Geschmacksgrenzen der Mittelschicht empfindlich irritieren. Ein Beispiel, das die Fernsehkritik in Österreich dahingehend beschäftigt hat, ist das ATV-Format „Saturday Night Fever“, das Jugendliche und ihre Ausgeh-Eskapaden zeigte. „Dass mit dieser Debatte nicht nur das Fernsehen thematisiert wird, sondern sich auch soziale Wirklichkeiten und Verwerfungen konstituieren, ist an diesem Beispiel deutlich erkennbar“, sagt Seier. Es gilt: Der private Raum ist im Reality-TV sowohl Labor, in dem Verhaltensweisen beobachtet werden, als auch Bühne, auf der diese in unterhaltende und emotionalisierende erzählerische Muster überführt werden. Analog dazu wird der Haushalt zur Probebühne, auf der nicht etwa alltägliche Verhaltensweisen sichtbar werden, vielmehr handelt es sich um Aufführungen von Verhaltensoptionen.

„Scheitern und die Vision seiner Überwindung sind im Fernsehen der Mikropolitiken eng verknüpft mit der Bereitschaft zur Aneignung von Wissen“, so Seier. Ob Körper oder Wohnung, Selbstbewusstsein oder Kindererziehung – im neuen Reality-TV ist alles Ergebnis von erlernbaren, auf dem Wissen von Expertinnen und Experten beruhenden Prozessen. Es geht um Zielorientierung, Selbstkontrolle und Selbstoptimierung. Das „Ich“ wird zum Projekt und Individualität paradoxerweise häufig zu einer Anpassungsleistung an normierte Lebensentwürfe.

Andrea Seier: „Mikropolitik der Medien“, Kadmos, 286 Seiten, 25,60 €
Andrea Seier: „Mikropolitik der Medien“, Kadmos, 286 Seiten, 25,60 €(c) Beigestellt

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2020)

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