Die Regierung unter Premierminister Boris Johnson richtet den Blick nach vorn und muss nun beginnen, ihre Versprechungen einzulösen. Vorerst wird aber eine Regierungsumbildung und eine neue Medienpolitik angestrebt.
London. Des einen Leid, des anderen Freud – und mittendrin die schweigende Mehrheit. Als gespaltene Gesellschaft verließ Großbritannien am Freitag, 23.00 Uhr Ortszeit, die Europäische Union. Vor dem Parlament in London versammelten sich ab dem späten Nachmittag begeisterte Brexit-Anhänger: „Es ist Zeit zu feiern“, sagte Julie Haylett, die einen Autobus voller Gesinnungsgenossen aus der Küstenstadt Southampton in die Hauptstadt führte. Zugleich versammelten sich EU-Anhänger mit Kerzen zu einer Mahnwache am Themse-Ufer, um „ein Licht in die Dunkelheit zu werfen“.
Die Mehrheit der Briten sieht das Leben außerhalb der EU mit einer gehörigen Portion Skepsis. 56 Prozent rechnen mit negativen wirtschaftlichen Konsequenzen. Im September 2016 waren es 45 Prozent gewesen. Dennoch veränderte sich die Einstellung zum EU-Austritt in den vergangenen dreieinhalb Jahren bemerkenswert wenig. Wie der Politikprofessor John Curtice belegt, würden heute 88 Prozent der „Remainers“ und 86 Prozent der Leavers erneut so abstimmen wie am 23. Juni 2016, als Großbritannien mit 52 zu 48 Prozent für den EU-Austritt stimmte. Eine Wählerin aus Sunderland: „Egal, was man uns einredet: Wir erwarten, dass unsere Entscheidung umgesetzt wird.“
„Augenblick der Erneuerung“
Sunderland im Nordosten Englands lebt vom japanischen Autohersteller Nissan, der von hier aus auch den europäischen Markt beliefert. An diesem symbolischen Ort berief Premierminister Boris Johnson am Freitag seine Regierung zu der letzten Kabinettssitzung vor Inkrafttreten des Brexit ein. In einer im Voraus in Ausschnitten veröffentlichten Rede an die Nation verkündete er abends „das Anbrechen eines neuen Morgens“, beschwor die Einigkeit der Briten und sprach von einem „Augenblick der Erneuerung und Veränderung.“
Damit wird er sich nicht lang Zeit lassen können. Johnsons Versprechen, dass er „den Brexit erledigen“ werde, bezeichnet der Schriftsteller Jonathan Coe als Beispiel dafür, „dass die politische Sprache einen Orwellschen Charakter angenommen hat“. In Wahrheit warten gewaltige Herausforderungen, nicht nur bei der Aushandlung eines neuen Wirtschaftsabkommens mit der EU, sondern auch im Land selbst.
Dafür wird bereits in den nächsten Tagen eine umfassende Regierungsumbildung erwartet. Nicht nur unter den Amtsinhabern soll es zu einem Kahlschlag kommen, auch der Zuschnitt vieler Ministerien soll radikal verändert werden. Johnsons einflussreichster Berater Dominic Cummings macht aus seinen Vorbehalten gegen die traditionelle Verwaltung kein Geheimnis, aktiv warb er bereits um „Spinner und Nichtgesellschaftsfähige“ für eine Umwälzung des Apparats. Dafür gibt es schon Beispiele: Die Leiterin von Johnsons Policy Unit ist die ehemalige Trotzkistin Munira Mirza. Sie befürwortet unter anderem eine radikale Änderung der britischen Einwanderungspolitik. Johnson hat sich wiederholt für die Einführung eines Punktesystems nach australischem Vorbild ausgesprochen, das eine streng gesteuerte und selektive Zuwanderung bringen soll.
Johnson setzt nicht nur auf milliardenschwere Investitionsversprechen, er geht auch der BBC an die Kandare. Seit Monaten boykottierte die Regierung kritische Sendungen, zugleich wird die künftige Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Senders in Frage gestellt. Erst diese Woche kündigte die BBC allein im Nachrichtendienst den Abbau von 450 Stellen an. Generaldirektor Tony Hall erklärte zuvor seinen Rückzug und warnte: „Niemals waren unsere Werte wichtiger als heute.“ Das letzte Interview Johnsons mit der BBC war mit einem ehemaligen Fußballreporter im Frühstücksfernsehen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2020)