Literatur

Aurélie rackert sich sinnlos ab

„Fehlstart“ erzählt vom Scheitern einer jungen Frau. Marion Messinas Debüt wurde in Frankreich hoch gelobt.
„Fehlstart“ erzählt vom Scheitern einer jungen Frau. Marion Messinas Debüt wurde in Frankreich hoch gelobt. (c) Le Dilettante
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Die Working Poor in Paris: Marion Messina zeichnet in „Fehlstart“ das aufwühlende Porträt einer Generation, der anders als ihren Eltern der soziale Aufstieg verwehrt bleibt.

Aurélie lebt in Paris und ist Empfangsdame auf Abruf. Sie erfährt kurzfristig von ihren Einsätzen in den verglasten Lobbys irgendwelcher Weltkonzerne, muss aber stets ab sechs Uhr morgens bereit sein. Gewaschen, geschminkt, in einem schwarzen Hosenanzug, die Fingernägel manikürt. Der Job der jungen Französin ist der vielleicht treffendste Ausdruck für den Zustand ihres Lebens und das Leben vieler Gleichaltriger: Sie sind eine Generation auf Stand-by, die von einem Tag auf den anderen lebt und auf der Stelle tritt.

Es sind die Jahre 2008/09. Die Finanzkrise fegt über Europa hinweg. In Frankreich regiert Nicolas Sarkozy. Michael Jackson stirbt. Vor diesem Hintergrund geht es im Roman „Fehlstart“ um die Gefühls- und Lebenslage der damals 20-Jährigen (und heute 30-Jährigen): Schulabgänger, die sich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten hangeln und irgendwann einsehen müssen, dass sie im Milieu der Working Poor gestrandet sind. Anders als ihre Eltern, die solide Berufslaufbahnen eingeschlagen haben, bleibt ihnen der soziale Aufstieg, eine Erfolgsgeschichte versagt. Marion Messina, die wie ihre Protagonistin Aurélie ursprünglich aus Grenoble stammt, macht die schwindenden Chancen der Jungen zum Thema ihres aufwühlenden Debüts.


Die Hoffnung der Arbeitertochter. Aurélie ist mit dem „republikanischen Mythos der Chancengleichheit“ aufgewachsen. In einer anderen Zeit hätte sie wohl, wie Messina notiert, „kein anderes Leben als das einer anständigen Familienmutter mit Mindestlohn erwarten“ dürfen. Doch nach dem Abschluss einer öffentlichen Schule hofft die Arbeitertochter auf die ersehnte Freiheit in der akademischen Welt. Sie, die zu lernen gelernt hat und durchschnittlich gute Leistungen erbringt, wird von der Unterdurchschnittlichkeit des Studiums herb enttäuscht.

Messina beschreibt ein Bildungssystem, das zwar das Elitäre abgelegt hat, an dessen Stelle aber Desinteresse und Durchschwindeln getreten sind. Ihre Eltern sind im Studienalltag keine Hilfe, da ihnen diese Erfahrungswelt fremd ist. Es müsse doch reichen, meinen sie, eine Arbeit zu finden, egal welche. Abgestoßen von der Fadesse der Uni – und verursacht durch den Liebeskummer aus der unglücklichen Beziehung zum Kolumbianer Alejandro – flüchtet Aurélie nach Paris. Doch dort wird sie nie richtig ankommen.

„Fehlstart“ ist mehr als die Geschichte eines persönlichen Scheiterns, es ist ein sehr politischer Roman. Mit ironischer Haltung und scharfem Blick betrachtet Messina die „feinen Unterschiede“ im Großstadtgerangel. Sie thematisiert die lebensweltlichen Brüche zwischen Provinzjugendlichen und Großstadtkids, entblößt den Habitus der Erfolgreichen und der Erfolglosen, bringt die Sprachlosigkeit zwischen Zugezogenen wie Alejandro und Hiergeborenen wie Aurélie auf den Punkt. Sie beschreibt Männer, die Sex haben wollen wie in den von ihnen konsumierten Pornos, und Erwachsene, die verspätet im Leben eine kindische Liebe suchen.

Die französische Zeitschrift „Marianne“ hat Messina als „Erbin“ Michel Houellebecqs bezeichnet. Dieses Lob gebührt der Autorin. Und noch etwas ist erfreulich: Die auch im Stil eigenständige Gesellschafts- und Genderkritik Messinas kommt anders als das Werk ihres Kollegen ohne sexistische und rassistische Ressentiments aus.


Gnadenlose Metropole. Begleitet werden Aurélies Misserfolge von zweifelhaften Beziehungen: Nach der Enttäuschung durch Alejandro geht sie eine Liaison mit dem älteren Franck ein, bei dem sie wohnt. Dann verlässt sie ihn angeekelt: „Seit Monaten prostituierte sie sich unter besten Bedingungen.“

Einen Freund und Leidensgenossen findet sie in Benjamin, einem aus guten Verhältnissen stammenden Fahrradkurier, den sie in Grenoble aufgrund der kleinstädtischen Grüppchenbildung nie kennengelernt hätte. In Paris schon: Weil die Metropole sie beide ohne Rücksicht auf ihre soziale Herkunft zermalmt. Auch Ex-Lover Alejandro trifft Aurélie wieder; die Verbindung war und ist strapaziös. Sie kommt zu einer schonungslosen Einsicht: Man scheitert besser allein als zu zweit.

Neu Erschienen

Marion Messina
„Fehlstart“

Übersetzt von
Claudia Steinitz
Carl Hanser Verlag
166 Seiten
18,50 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2020)

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