Gastkommentar

Redefreiheit für Olympiateilnehmer: Die fehlgeleitete Aufregung um "Regel 50"

Das Grundrecht auf Redefreiheit wird durch die Regeln des Internationalen Olympischen Komitees nicht beeinträchtigt.

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Wenn Kritiker etwas besonders pauschal vortragen oder uns sogar entgegenschleudern, wie Jackson Pollock die Farbe auf die Leinwand, geht die Präzision der Gedanken oft im entstehenden Trubel verloren. Ähnlich verhält es sich, wenn Kritik auf dem Prinzip „fertig – Feuer frei – Abschuss“ basiert und der Kontext außer Acht gelassen wird. Die Präzision fällt dann dem Zwang zum Schießen zum Opfer.

Nehmen wir die „Regel 50“ des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) als Beispiel. Sie schreibt vor, dass in olympischen Stätten keinerlei Demonstrationen oder politische, religiöse und rassistische Stimmungsmache erlaubt sind. Die Regel gilt auch für Siegerehrungen; sie verbietet Demonstrationen auf dem Podium. Für diese Bestimmung gibt es eine einfache Erklärung. Trotzdem wurde die Regel zuletzt wieder als ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung der olympischen Athletinnen und Athleten scharf kritisiert.

Sortieren wir mal die Fakten.

1. Bei den Olympischen Spielen handelt es sich um eine internationale Sportveranstaltung, an der Teams von 206 Nationalen Olympischen Komitees teilnehmen, 40 internationale Sportverbände beteiligt sind und, im Fall der Sommerspiele, etwa 11.000 Athleten starten. Die Spiele bestehen aus vielen beweglichen Teilen, ganz zu schweigen von zusätzlichen Einflussfaktoren wie Medien, Zuschauern und Funktionären.

2. Zwischen den 206 Ländern, aus denen die Athleten stammen, gibt es viele komplexe internationale Spannungen.

3. Die Olympischen Spiele sind jedoch ein besonderes Phänomen. Denn selbst wenn die Welt als Ganzes nicht gut funktioniert, sind die Spiele eine Oase, in der sich die Jugend der Welt zu einem friedlichen Wettkampf versammeln kann – frei von den Spannungen, für die die ältere Generation verantwortlich ist und mit denen die Jugend vor und nach den Spielen zurechtkommen muss. Natürlich sind die Spiele damit eine Art „Blase“, die nicht von Dauer ist. Aber jedes Mal, wenn die Olympischen Spiele stattfinden, wird ein kleiner Schritt getan. Denn wenn der friedvolle Umgang miteinander im Rahmen der Spiele funktioniert, wenn auch nur für 17 Tage, dann könnte dies eines Tages vielleicht auch in der Welt da draußen funktionieren.

4. Hat jemand in der heutigen Welt ein besseres Beispiel für Frieden und Solidarität parat, das ein solches Ausmaß hat, mit einer Reichweite im Milliardenbereich und einer extrem starken emotionalen Bindung?

Nun zurück zu „Regel 50“ und der fehlgeleiteten Aufregung um sie.

Erstens handelt es sich hierbei nicht etwa um eine neu eingeführte Regel. Zweitens steht sie voll im Einklang mit der grundlegenden Idee der Olympischen Spiele, dass politische Ansichten, Religion, ethnische Herkunft und sexuelle Orientierung hier keine Rolle spielen sollten. Die Richtlinien zur „Regel 50“, die nun für so viel Furore sorgen, wurden nach umfangreichen Diskussionen von den Athleten selbst entwickelt. Es sind die Athleten, die das Risiko tragen, den Moment, auf den sie ihr ganzes Leben hintrainiert haben, durch einen Protest auf dem Podium zu verlieren.

Jeder hat das Grundrecht auf seine eigene politische Ansicht und die Freiheit, diese Ansicht auch zu äußern. Das IOC steht voll hinter diesem Grundsatz und hat eindeutig klargestellt, dass es den Athleten selbstverständlich freisteht, ihre Meinung in Pressekonferenzen, Interviews oder in den sozialen Medien kundzutun. Aber auch in einer freien Gesellschaft können Rechte mit bestimmten Einschränkungen einhergehen. „Regel 50“ schränkt diese Rechte in gewissen Momenten und an gewissen Orten ein. Das Grundrecht auf Redefreiheit selbst wird dadurch jedoch nicht beeinträchtigt. Viele andere Regierungs- und Sportorganisationen haben ähnliche Regelungen zu Demonstrationen. Das Zulassen von Protest auf dem olympischen Podium würde bedeuten, dass alle Proteste akzeptiert werden müssen, nicht nur diejenigen, denen wir persönlich zustimmen.

Wie kein Land, so ist auch keine Organisation perfekt. Einige, darunter das IOC, haben sich jedoch bestimmten Prinzipien und ambitionierten Zielen verpflichtet. Das IOC setzt sich dafür ein, die Welt im friedlichen, sportlichen Wettstreit zusammenzubringen, den Sport zur ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung zu nutzen und über ihn das Miteinander von Menschen aus der ganzen Welt zu fördern. Die Spiele zeigen, dass wirklich alles möglich ist, wenn es den Willen dazu gibt und der Umgang miteinander von Wohlwollen und gegenseitigem Respekt geprägt ist.

„Regel 50“ erinnert daran, dass bei den Olympischen Spielen Zurückhaltung ein Element dieses gegenseitigen Respekts ist. Es ist völlig angemessen, dass das IOC als Veranstalter der Spiele Regeln aufstellt, die mit den grundlegenden Werten der Spiele in Einklang stehen. Dahinter steht keine Hybris, wie einige Kritiker behauptet haben, sondern vielmehr die Überzeugung, dass eine bessere Welt durch ein angemessenes Verhältnis von Rechten und damit einhergehenden Pflichten möglich ist.

»Uns allen ist klar, dass es keine perfekte Ideologie oder allgemeingültige Weltanschauung gibt. Die menschlichen Beziehungen sind zu breit gefächert für eine solche Ersatzlösung.«

Es ist unser Los, in einer hoch komplexen Welt zu leben. Gleichzeitig ist es unsere Pflicht, zum Wandel beizutragen und Konsens darüber zu erzielen, wie wir auf eine Art und Weise zusammenleben können, die die Vielfalt respektiert und nicht verurteilt, und die das Recht auf Anderssein akzeptiert. Dabei ist uns allen klar, dass es keine perfekte Ideologie oder allgemeingültige Weltanschauung gibt. Die menschlichen Beziehungen sind zu breit gefächert für eine solche Ersatzlösung.

Die Olympischen Spiele sind für sich genommen natürlich kein Allheilmittel für all die Herausforderungen, denen wir gegenwärtig gegenüberstehen. Aber die Prinzipien, auf denen die Spiele aufgebaut sind, können einen Weg in die Zukunft weisen, der grundlegende humanistische Werte einschließt. Sich nicht von Vergeltung leiten zu lassen, vor allem nicht von fehlgeleiteter Vergeltung, ist ein großartiger Anfang.

„Regel 50“ der Olympischen Charta schreibt diesen wichtigen Grundsatz fest. Wir alle sollten uns an unser Erbe erinnern und, ohne das Recht auf Redefreiheit zu opfern, die besondere Erfahrung der Olympischen Spiele als Schritt in eine bessere Zukunft sehen.

Der Autor

IOC-Doyen Richard W.  Pound, (* 1942) ist ehemaliger Vorsitzender der Welt-Antidoping-Agentur (WADA), sowie ehemaliger Vizepräsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC).

Bei den Olympischen Sommerspielen im Jahr 1960 wurde er als Mitglied der kanadischen Schwimmauswahl Sechster im 100-Meter-Freistil-Finale.

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