Gedankenlese

1945 – Ende und Anfang: Blick zurück auf eine „Niemandszeit“

Das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren wird in Geschichtsmagazinen aus vielen Perspektiven ausgeleuchtet.

Die Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren (Kapitulation Nazideutschlands am 8. Mai 1945, Kapitulation Japans am 15. August bzw. 2. September) wird uns das Jahr über beschäftigen. 1945 war ein Wendejahr, eine Zäsur, eine „Stunde Null“, eine „Wolfs“- und „Niemandszeit“. 1945 markierte das Ende des braunen Terrorregimes und den Beginn des Atomzeitalters, der bald in einen jahrzehntelangen Kalten Krieg zwischen Ost und West münden sollte. Für die Ewiggestrigen war es die Zeit der totalen Niederlage und der Demütigung, aber für viele mehr war es eine Zeit der Befreiung und des Wiederatmenkönnens. Die Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschehen“ der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn widmet dem Wendejahr ein Heft, in dem Beiträge von sechs herausragenden deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftern versammelt sind.

Durch die Trümmerlandschaften des Dritten Reichs zogen Anfang 1945 zerlumpte, ausgemergelte, erschöpfte Gestalten auf „Todesmärschen“, die anrückenden alliierten Soldaten öffneten die Tore der Konzentrationslager und trafen auf Leichenberge und überlebende Gefangene, dem Tode näher als dem Leben. Frank Bajohr vom renommierten Münchner Institut für Zeitgeschichte fasst in seinem Aufsatz Stand und Perspektiven der Holocaustforschung in einem gescheiten Text zusammen. Vor allem in der Täterforschung gibt es neue Erkenntnisse, weil auch nichtdeutsche Täter ins Blickfeld genommen werden, wobei die zentrale Verantwortung Hitlerdeutschlands niemals ausgeblendet werden kann.

Auch der Aufsatz von Professor Martin Geyer von der Uni München über die „Nachkriegszeit als Gewaltzeit. Ausnahmezustände nach Kriegsende“ ist höchst lesenswert. Er beschreibt dabei auch den von den Nazis forcierten Ausnahmezustand der Selbstvernichtung und der – unfreiwilligen – Selbstaufopferung, der viele Zivilisten in der Endphase des Krieges sinnlos das Leben kostete. Auch die globale Perspektive und die eigenwillige japanische Erinnerungskultur werden in dem Heft behandelt.

Auch das jüngste Heft der Reihe „Die Presse. Geschichte“ widmet sich dem 1945er-Jahr. Haushistoriker Günther Haller fokussiert dabei weniger auf die gewaltsame Endphase der Naziherrschaft in Österreich, sondern auf den Neubeginn in den von Fliegerbomben und Artilleriegeschossen verursachten Kraterlandschaften, auf den Wiederaufbau aus Ruinen. Haller beschreibt den weitverbreiteten Hunger im Land, den ungeheuren Fleiß, die Ausdauer und Zähigkeit der „Trümmerfrauen“, die den Schutt wegräumten, Gewalt und Diebstahl unter anarchischen Zuständen, die zwei beziehungsweise vier Welten, in die Österreich geteilt war, das Wirken der Besatzungsmächte, ohne deren Segen nichts mehr ging, den Wandel im Sozial- und Geschlechterverhalten durch die Erfahrungen im Krieg und in der Niederlage.

Einzigartig sind aber nicht nur Hallers Texte, sensationell ist die visuelle Gestaltung und die Bildauswahl. Wer das Heft durchblättert, kann wirklich die damalige Trostlosigkeit in dem besiegten und darniederliegenden Land erahnen. Ausgebrannte Fensterhöhlen in Häuserfassaden, Laufstege, die durch die Schuttberge ein Vorwärtskommen in den Städten möglich machten, schmale Notstege über die Donau. Und dennoch, wie Haller schreibt: „Ein Jahr, in dem trotz aller Sorgen und Not wesentliche Grundpfeiler für die Entwicklung Österreichs gesetzt worden sind.“

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

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