Der Text ist schwach, der Text ist stark: Zum postsynodalen Schreiben von Papst Franziskus.
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Mit Spannung ist es erwartet worden. Jetzt ist es da. Das postsynodale Schreiben von Papst Franziskus. Es trägt den Titel „Querida Amazonia – Geliebtes Amazonien“ und umfasst 51 Seiten. Man ist bei Franziskus gewohnt, an die Peripherien des Textes zu gehen. So war es im Schreiben Amoris laetitia, wo versteckt in einer Anmerkung eine flexiblere Praxis mit wiederverheirateten Geschiedenen angedeutet wurde. Wie ist es jetzt? Der Papst hat entschieden, nicht zu entscheiden. Keine Lockerung des Pflichtzölibats, keine viri probati, nichts. Franziskus hält damit Wort – und enttäuscht!
Er hält Wort, dass mit ihm ein „optionaler Zölibat“ nicht zu haben ist, dass er das Wort von Papst Paul VI. „mutig“ findet, eher sterben zu wollen als den Zölibat zu lockern. Er enttäuscht, weil er – anders als die Mehrheit der Synodalen – nicht einmal in Grenzregionen eine behutsame Ausnahme vom Pflichtzölibat zulässt. Man fragt sich: Wozu die Aufforderung, ihm „mutige Vorschläge“ zu machen? Wozu der Aufwand der dreiwöchigen Synode in Rom, wenn alles beim Alten bleibt?
Aber bleibt wirklich alles beim Alten? Nur weil Franziskus den Alarmismus mancher Theologen und Bischöfe, dass nach der Synode nichts mehr so sein könne wie vorher, ins Leere laufen lässt? Vielleicht hält er die Zeit für noch nicht reif. Vielleicht fühlt er sich Benedikt XVI. doch näher als man meinte. Vielleicht will er den Blick auf das geschundene Antlitz der Kirche Amazoniens lenken.
Der Papst desillusioniert. Er bedient nicht die Reform-Agenden des Synodalen Weges in Deutschland. In dieser Weigerung dürfte das Bemühen stehen, den Begriff der Reform zu weiten. Schon in seinem «Brief an das pilgernde Gottesvolk in Deutschland» vom Juni 2019 erinnerte der Papst an sein Kernanliegen: die Evangelisierung. Wie lässt sich die Freude des Anfangs wiederfinden? Wo sind die Quellen, die unter dem Schutt freizulegen wären? Aber braucht es für die Evangelisierung nicht neue Formen des Kircheseins?
Vier Visionen
Der Papst träumt. Abweichend vom Stil päpstlicher Verlautbarungen stellt er vier Visionen vor: eine soziale, die die Rechte der Armen stärken will; eine kulturelle, die die indigene Weisheit bewahren will; eine ökologische, die die Biodiversität der Region vor ungezügelten Wirtschaftsinteressen schützen will. Sein Traum von einer Kirche Amazoniens mit eigenem Antlitz setzt auf das Engagement von Frauen und Männer. Mehr nicht, weniger nicht. Kirchlicher Funktionalismus und eine «Klerikalisierung der Frauen» ist ihm zuwider.
Selbstkritisch bedauert er die Verquickung von Mission und Kolonialismus und fordert mehr Solidarität mit den Armen. Ein Eifer für das Heilige, der die indigene Kultur verachtet, ist ihm suspekt. Damit erteilt er dem Wiener Bilderstürmer, der während der Synode indigene Statuen im Tiber versenkt hatte, die fällige Absage.
Statt disziplinarischer Entscheidungen, die man erwartet hätte, zitiert Franziskus lyrische Stimmen, die die bedrohte Schönheit Amazoniens poetisch ins Wort bringen. Darunter Pablo Neruda und Mario Vargas Llosa. Das ist neu. Dadurch unterbricht Franziskus eingeschliffene Leseweisen. Er will die Wahrnehmung für das Leid schärfen und zur Umkehr einladen. Gläubige, Suchende und Agnostiker – alle! Er gibt der Not einer ökologisch bedrängten, wirtschaftlich ausgebeuteten, sozial missachteten Bevölkerung seine Stimme. Es ist die Stimme des Papstes. Wer hätte hier Ohren dafür? Der Text ist schwach, der Text ist stark.
Jan-Heiner Tück (53) ist Leiter des Instituts Systematische Theologie und Ethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Er gehört der Theologischen Kommission der Bischofskonferenz an.