Frankreich

Nordfrankreich: Eine Reise nach "1917"

Der Höhenzug Chemin des Dames war eines der umkämpftesten Gebiete im Ersten Weltkrieg.
Der Höhenzug Chemin des Dames war eines der umkämpftesten Gebiete im Ersten Weltkrieg. (c) imago/Leemage (Herve Gyssels)
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Die Geschichte hinter dem oscar-prämierten Film „1917“ versteht man am besten an den Originalschauplätzen. Im Nordwesten Frankreichs erinnert vieles an den Ersten Weltkrieg.

Das Weltkriegsdrama als Reiseempfehlung? Durchaus. Der nordfranzösische Kriegsschauplatz, dessen Verwüstung Sam Mendes in „1917“ so eindrucksvoll in Szene setzt, zieht Jahr für Jahr Zehntausende Touristen an. Vor allem Reisegruppen aus Großbritannien und dem Commonwealth, die sich für die einstigen Schlachtfelder an der Somme und bei Arras interessieren, auf denen ihre Vorfahren kämpften, litten und zu Tausenden begraben liegen. Doch nicht nur für die Nachfahren der Soldaten ist die Reise an die Schauplätze der europäischen Urkatastrophe lohnend. Sie vermittelt eine Ahnung der Leistung hinter der europäischen Einigung und führt durch ein historisch interessantes, landschaftlich und kulturell reichhaltiges, trotz der Schlachtfeld-Bummler noch nicht überlaufenes Gebiet.

Ziemlich genau in der Mitte der heute Hauts-de-France genannten Region verläuft die ehemalige Frontlinie in Nord-Süd-Richtung. Von Paris aus beginnt man die Reise am besten in umgekehrt chronologischer Reihenfolge: Auf einer Lichtung unweit von Compiègne endete mit der Unterzeichnung der Waffenstillstandsurkunde am 11. November 1918 der Krieg. Das kleine Museum am Rand der Lichtung wurde 2018 auf neuesten Stand gebracht und führt seither mustergültig vor Augen, wie eine nicht mehr nationale, sondern europäische Perspektive auf die Ereignisse von damals aussehen kann.

Der Ring der Erinnerung trägt die Namen der Toten.
Der Ring der Erinnerung trägt die Namen der Toten. (c) imago/imagebroker (imageBROKER/haro)

Nur wenige Kilometer weiter westlich liegt der Chemin des Dames, eine Hügelkette von evidenter strategischer Bedeutung. Die deutschen Truppen besetzten sie im Herbst 1914 und bauten sie zu einer Festung aus, die später Teil der Siegfriedstellung wurde. Auf diese auch Hindenburglinie genannte Verteidigungslinie einige Kilometer hinter der eigentlichen Front zogen sich die deutschen Armeen angesichts einer bevorstehenden alliierten Offensive im Frühjahr 1917 zurück. Der Chemin des Dames war einer ihrer stärksten Punkte, was den französischen Oberkommandierenden Robert Nivelle im April 1917 nicht daran hinderte, hier den entscheidenden Durchbruch zu versuchen – eine der mörderischsten Schlachten und Aufstände in der französischen Armee war die Folge.

Riesenburg: Ein Haufen Steine

Soldatenfriedhöfe drücken der Landschaft heute einen melancholischen Stempel auf, die Straße oben am Kamm ist von Denkmälern gesäumt. Das stimmigste davon ist ein Ensemble verkohlter Baumstämme namens Constellation de la douleur (Sternbild des Schmerzes). Es ist den subsaharischen Soldaten gewidmet, die in den Schneestürmen des April 1917 die vordersten Linien der französischen Angriffswelle bilden mussten und zu Tausenden im deutschen Maschinengewehrfeuer umkamen. Das Mahnmal befindet sich direkt neben einem damals heiß umkämpften, Drachenhöhle genannten Steinbruch, der heute ein empfehlenswertes Museum beherbergt. Es zeigt sowohl das Leben und Leiden der hier kämpfenden Soldaten als auch die Auswirkungen des Kriegs auf die Region: Erst in den 1970ern erreichte diese wieder ihre Einwohnerzahl von 1914. Einer der Gründe für die Entvölkerung war die Strategie der verbrannten Erde, die den deutschen Rückzug auf die Siegfriedstellung begleitete und es nachstoßenden Alliierten unmöglich machen sollte, im geräumten Gebiet Deckung zu finden – auch das zeigt der Film „1917“ in drastischen Bildern. Ein Symbol für die Zerstörungswut, die unzählige Kulturdenkmäler vernichtete, ist heute die Burg von Coucy. Mit einem Durchmesser von 31 und einer Höhe von 54 Metern übertraf ihr im 13. Jahrhundert erbauter Bergfried den des Louvre weit. Eine deutsche Sprengladung ließ vom größten Burgturm des Mittelalters nur einen nach wie vor beeindruckenden Haufen Steine übrig.

Unweit der im Weltkrieg völlig zerstörten, als Art-déco-Metropole wiederauferstandenen alten Handels- und Textilstadt Saint-Quentin entspringt die Somme, deren gallischer Name, Samara, so viel wie „friedlicher Fluss“ bedeutet. 1916 rollte jedoch eine beispiellose Welle der Gewalt über die sanft gewellte Landschaft, in deren Mitte der Fluss in Schlingen in Richtung Ärmelkanal fließt. Das Startsignal gab ein gewaltiger Knall: 28 Tonnen Sprengstoff, direkt unter den vordersten deutschen Linien in der Nähe von La Boisselle deponiert, schleuderten das Erdreich am Morgen des 1. Juli 1916 1300 Meter hoch. Außer einer Million Toter und Verwundeter brachte die Schlacht aber kaum Veränderungen. Der Krater der Explosion existiert noch heute: Ein britischer Soldat kaufte das Grundstück und machte es zur Gedenkstätte.

Bei den Dreharbeiten zum hochdekorierten Film „1917“.
Bei den Dreharbeiten zum hochdekorierten Film „1917“. (c) imago images/Prod.DB (Francois Duhamel via www.imago-i)

Ganz in der Nähe befindet sich mit dem Ehrenbogen von Thiepval das größte britische Mahnmal der Welt. Es ist aus zehn Millionen Backsteinen erbaut und den 72.000 gefallenen Soldaten gewidmet, die nicht in einem eigenen Grab bestattet werden konnten. Doch besser noch als die zahllosen steinernen Monumente, an denen man der alten Front entlang unweigerlich vorbeikommt, vermitteln die vom Krieg geformten Landschaften eine Ahnung vom Grauen. Etwa beim südafrikanischen Memorial von Longueval. 3200 Südafrikaner mussten dort im Juli 1916 fünf Tage unter schwerem Artilleriefeuer im Delville-Wald ausharren, sie nannten ihn Devil-Wood. Hinter der Gedenkstätte steht ein alter Baum, an dem Medaillen hängen: Es handelt sich um den einzigen Baum, der noch aufrecht stand, als die Überlebenden den „Wald“ räumen durften. Der ist längst wieder aufgeforstet, doch zum Spazierengehen eignet er sich nicht: Es gibt dort keinen ebenen Fleck, Trichter reiht sich an Trichter. Die Überreste Hunderter Soldaten konnten nie geborgen werden, der Wald ist ihr Friedhof.

Wieder etwas weiter im Norden liegt einer der „1917“-Filmschauplätze: der Ort Écoust-Saint-Mein, der während der Schlacht von Arras zu weiten Teilen zerstört wurde. An diese erinnert in Arras der Wellington-Steinbruch: Die mittelalterlichen Steinbrüche, die einst das Baumaterial für Bürgerhäuser geliefert hatten, wurden 1917 von neuseeländischen Bergleuten in monatelanger Schwerarbeit erweitert, sodass 24.000 Soldaten unbemerkt von den Deutschen an die Front herangeführt werden konnten. Die Überraschung gelang. Nach einer Ostermesse stürmten Australier, Briten und Neuseeländer am 9. April 1917 um 5 Uhr 30 unmittelbar vor den deutschen Stellungen ins Freie. Doch nach anfänglichen Erfolgen blieb die britische Offensive stecken.

Smiths und Schmidts

Nördlich der Stadt erinnert ein weithin sichtbares Denkmal an die Eroberung des Hügels von Vimy durch die Kanadier, ein wichtiger Moment im kollektiven Gedächtnis des Landes. Auf dem Weg dorthin, in Neuville-Saint-Vaast, sollte man unbedingt auch dieses Denkmal besuchen: Es sieht aus wie ein Münzfernrohr, ist aber eine fix installierte Virtual-Reality-Brille namens Timescope. Neuville-Saint-Vaast war einer der Orte, an denen es zu spontanen Verbrüderungen zwischen den Kriegsgegnern kam. Starkregen trieb im Dezember 1915 die Soldaten beider Seiten aus den überschwemmten Gräben. „Franzosen und Deutsche sahen einander an, sahen, dass sie genau die gleichen Menschen waren. Sie lächelten sich zu, man wechselte ein paar Worte. Hände wurde ausgestreckt und gedrückt, man teilte Tabak, Saft und Wein“, erinnert sich der französische Korporal Louis Barthas in seinen Kriegstagebüchern an die „Verbrüderung zwischen Männern, die die gleiche Abscheu vor dem Krieg empfanden und die man doch dazu zwang, sich gegenseitig umzubringen“. Er wünschte sich eine Erinnerung nicht nur an die Toten, sondern auch an die Verbrüderung, die von französischem Artilleriefeuer beendet wurde. Nach 100 Jahren war man so weit.

Nur kurz zuvor, am 11. November 2014, wurde am Rand der nahen Nekropole von Notre-Dame-de-Lorette ein weiteres Denkmal eingeweiht. Ein Betonring von 300 Metern Umfang, entworfen vom Pariser Architekten Philippe Prost, liegt heute neben dem riesigen Soldatenfriedhof und ragt teilweise weit über den Abhang hinaus. Metalltafeln mit den Namen von 580.000 auf den Schlachtfeldern Nordfrankreichs Getöteten sind an der Innenseite des Rings angebracht, den man lesend umrunden kann. Es ist das schönste und würdevollste aller Weltkriegsdenkmäler: Kein tieferer Sinn oder höherer Zweck ihres Sterbens wird den Toten im Nachhinein aufgezwungen, kein Vaterland beschworen, kein Dienstgrad, keine Religion, keine Nationalität verstellen die Sicht auf den Menschen. Name für Name ist graviert, ohne Unterscheidung. Gleiche Namen werden so oft wiederholt, wie Menschen dieses Namens umgekommen sind. So geht man vorbei an Smiths und Schmidts, Taylors und Schneiders, Bruckners und Duponts – am Ende einer langen Fahrt ist das der richtige Ort, um darüber nachzudenken, was ohne die sinnlosen Massaker, die eine ganze Generation vernichteten, aus der Welt hätte werden können.

EIN FRONTBESUCH IN NORDFRANKREICH

Schauplätze: Lichtung von Rethondes: in Compiègne
Drachenhöhle: Chemin des Dames in Oulches-la-Vallée
Ruinen von Coucy: in Coucy-le-Château-Auffrique
Longueval: den Wegweisern folgen Wellington-Steinbruch: in Arras
Timescope/Verbrüderungsdenkmal: in Neuville-Saint-Vaast
Ring der Erinnerung: in Ablain-Saint-Nazaire
Lochnagar-Krater: in 80300 Ovillers-la-Boisselle. Im Old Blighty Tearoom gleich nebenan serviert Alison Haslock Tee und britische Snacks, ihr Mann, Jon, führt als Battlefield Guide Interessierte über Kriegsschauplätze der Umgebung.

Filmtipp: „1917“, Kriegsfilm von Sam Mendes, vielfach ausgezeichnet, u.a. zwei Golden Globes, drei Oscars

Buchtipp: Der Autor Georg Renöckl besuchte „111 Orte in Nordfrankreich, die man gesehen haben muss“, Emons Verlag, 17,50 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.02.2020)

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