Michael Ludwig spricht über alles – nur nicht über eine Stunde und über Migration.
Seltsames hat sich Dienstag Mittag über den sonnengefluteten Dächern Wiens ereignet. Da tritt der Wiener Bürgermeister vor 100 Funktionäre und Parteifreunde zu einer groß angekündigten Grundsatzrede. (Aber nein, nicht um für Pamela Rendi-Wagners Verbleib an der Parteispitze zu werben, die kommt mit keiner Silbe vor, ist auch nicht da). Und er erwähnt in der ersten Minute, nicht den Wahlkampf zu starten.
Wer wäre auf diese Idee gekommen? Dass Michael Ludwig die nächste Stunde für allerlei Versprechen nützt – Gratis-Ganztagsschule, Lehrstellen-, Pflegegarantie – hat nichts damit zu tun, dass im Herbst gewählt wird. Für wie naiv werden die Zuhörer gehalten?
Der promovierte Historiker spannt einen im 19. Jahrhundert beginnenden Bogen. Anfangs steif, dann lockerer referiert er über die Verdienste der Sozialdemokratie und macht Versprechen. Betont klassisch arbeitet er alle genuinen SPÖ-Themen durch – vom Wohnen über Gesundheit bis zur Bildung. Interessant: Das Wort Migration kommt erst gar nicht vor. Eine Rede wie diese könnte auch in den 1990er Jahren gehalten worden sei, oder in den 1970ern. Das Vermitteln von Konstanz, Unaufgeregtheit, Ruhe (Motto: Nur keine Wellen!) gelingt niemandem in der Wiener Stadtpolitik so gut wie Michael Ludwig. Die große, mitreißende Saga ist das nicht. Aber vielleicht reicht das angesichts der Turbulenzen, in denen die Bundes-SPÖ schlingert.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2020)