Gezi-Prozess

Gezi-Prozess: Nach Freispruch erneuter Haftbefehl

Mucella Yapici, eine der Angeklagten, für die sich das Gefängnistor öffnete.
Mucella Yapici, eine der Angeklagten, für die sich das Gefängnistor öffnete. (c) REUTERS (UMIT BEKTAS)
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Dem Kunstmäzen Osman Kavala wurde vorgeworfen, die regierungsfeindlichen Gezi-Proteste in Istanbul angezettelt zu haben. Nachdem ihn ein Gericht überraschend freigesprochen hatte, wurde er nach wenigen Stunden erneut festgenommen.

Istanbul. Im ersten Moment konnte es niemand so recht glauben. Da saß der Kunstmäzen Osman Kavala, einer der prominentesten Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft, zweieinhalb Jahre als mutmaßlicher Staatsfeind hinter Gittern. Die Staatsanwaltschaft forderte lebenslange Haft für Kavala, weil er die regierungsfeindlichen Gezi-Proteste von 2013 als Umsturzversuch organisiert und finanziert habe. Doch nach dem unerwarteten Freispruch vom Dienstag, wurde erneut Kavalas Festnahme angeordnet.

Präsident Recep Tayyip Erdogan persönlich bezeichnete Kavala als Drahtzieher eines Putschversuches. Doch als das zuständige Gericht im Hochsicherheitsgefängnis von Silivri am Dienstag sein Urteil gegen Kavala und 15 Mitangeklagte verkündete, gab es eine Riesenüberraschung: Die Richter sprachen Kavala und neun andere Angeklagte von allen Vorwürfen frei. Hinter der Entscheidung steckt das außenpolitische Kalkül der Regierung, die sich wieder an Europa annähern will. Doch der Freispruch ist im Staatsapparat offenbar umstritten: Wenige Stunden nach dem Freispruch ordnete die Staatsanwaltschaft an, Kavala wieder festzunehmen.

Mit Kavalas Freispruch im Gezi-Prozess geht die Türkei einer Verurteilung durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof und neuem Streit mit der EU aus dem Weg – doch die Staatsanwaltschaft verhinderte mit einem neuen Strafvorwurf wegen angeblicher Beteiligung Kavalas am Putschversuch von 2016, dass Kavala auf freien Fuß kam. Beides seien politische Entscheidungen, sagte der Oppositionsabgeordnete Garo Paylan am Abend: Offenbar lägen verschiedene Flügel im Staatsapparat miteinander im Streit. Der stellvertretende Parlamentspräsident Mithat Sancar, der ebenfalls der Opposition angehört, sprach von einem „heftigen und ganz offenen Machtkampf“ in Staat, Bürokratie und Erdogans Regierungspartei AKP.

„Keine konkreten Beweise“

Erdogans Regierung sieht die Gezi-Proteste, die sich an Plänen zur Bebauung des kleinen Gezi-Parks in Istanbul entzündet hatten, als Umsturzversuch. Um diese Vorwürfe zu untermauern, präsentierte die Staatsanwaltschaft im Kavala-Prozess absurde Indizien, zu denen unter anderem Gespräche Kavalas mit deutschen Diplomaten gehörten. Kritiker sprachen von einem Schauprozess, alle Beteiligten rechneten mit einer Verurteilung.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte forderte schon im vergangenen Jahr die Freilassung von Kavala; die Europarichter kündigten für den 10. März eine endgültige Entscheidung an, der sich die Türkei als Mitglied des Europarats unterwerfen müsste.

Mit dem Freispruch kam das Gericht in Silivri dem Straßburger Urteil zuvor. Statt lebenslanger Haft verkündete der Vorsitzende Richter Galip Mehmet Perk, die Anklage habe keine „konkreten und sicheren Beweise“ gegen die Angeklagten vorgelegt. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, sagte der Angeklagte Can Atalay. „Damit haben wir nicht gerechnet.“ Das Verfahren gegen sieben weitere Angeklagte, die ins Ausland geflohen waren, wird voraussichtlich auch eingestellt; unter ihnen ist der in Berlin lebende Journalist Can Dündar.

Kavalas Unterstützer, die mit Bussen aus Istanbul ins rund 70 Kilometer entfernte Silivri gefahren waren, feierten die Freisprüche im Gerichtssaal und außerhalb mit Jubelrufen und Freudentänzen. Kavalas Frau Ayse Bugra wurde von Gratulanten umringt und umarmt. Am Abend warteten Kavalas Freunde aber vergeblich vor dem Gefängnistor in Silivri auf die Freilassung.

Eine Justiz auf Regierungslinie

Viele Beobachter waren sich einig, dass politische Überlegungen den Freispruch ermöglichten, denn die türkische Justiz ist auf Regierungslinie. „Kein türkischer Richter kann einen prominenten Angeklagten ohne Wink aus dem Präsidentenpalast verhaften oder freilassen“, sagte Savas Genc, Politologe und Türkei-Experte an der Universität Heidelberg, unserer Zeitung in Istanbul. Savas und andere Beobachter sind sicher, dass die jüngsten Verstimmungen zwischen der Türkei und Russland wegen des Syrien-Konfliktes entscheidend waren für den Freispruch für Kavala.

Regierungsnahe Kommentatoren hatten in den vergangenen Wochen eine Wiederannäherung der Türkei an Europa und die USA ins Gespräch gebracht. „Die Freisprüche sind ein Zeichen des Pragmatismus der Erdogan-Regierung“, sagte Genc. „Sie will sich wegen der Krise in den Beziehungen zu Russland wieder mehr Europa zuwenden.“

Der frühere Parlamentsabgeordnete Suat Kiniklioglu schrieb auf Twitter, Ankara habe erkannt, dass sich die Beziehungen zu Russland verschlechtern und dass Europa nicht weiter vor den Kopf gestoßen werden solle. „Es geht nur ums Überleben. Macchiavelli würde stolz sein.“

Es wäre nicht das erste Mal, dass die türkische Regierung mit der Justiz Außenpolitik macht. Vor zwei Jahren ließ ein Gericht den deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel überraschend aus einjähriger Untersuchungshaft frei, weil die Bundesregierung wirtschaftlichen Druck auf die Türkei gemacht hatte. Der US-Pastor Andrew Brunson kam im Oktober 2018 frei, weil die türkische Regierung inmitten einer schweren Wirtschaftskrise die Beziehungen zu den USA reparieren wollte.

Die Verfolgung geht weiter

Welchen Kurs die Türkei künftig verfolgen wird, dürfte sich an diesem Mittwoch zeigen, wenn ein anderes Gericht die Urteile im Prozess gegen den Menschenrechtler Taner Kilic und andere Aktivisten fällt, darunter den Berliner Peter Steudtner, denen ebenfalls staatsfeindliche Aktivitäten vorgeworfen werden. Die Verfolgung potenzieller Gegner mit rechtsstaatlich fragwürdigen Mitteln geht weiter. Die Justiz ordnete am Dienstag die Festnahme von fast 700 Menschen an, denen sie Verstrickung in Umsturzpläne vorwirft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2020)

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