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Quirliges Zeitdokument

Zeitdokument.  Ludwig Hirschfeld, Autor des City-Guides der Reihe „Was nicht im Baedeker steht“, galt seit dem Buch „Das klingende  Wien“ (1912) als journalistischer Stadtexperte.
Zeitdokument. Ludwig Hirschfeld, Autor des City-Guides der Reihe „Was nicht im Baedeker steht“, galt seit dem Buch „Das klingende Wien“ (1912) als journalistischer Stadtexperte.(c) Martin Amanshauser
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Ein heute fast hundertjähriger Reiseführer hat Wien letztmals in aller Unschuld abgebildet.

Im Jahr 1927 erschien in der Städtetourismus-Reihe „Was nicht im Baedeker steht“ (Piper Verlag, 17 Bände) ein Wien-Führer. Autor Ludwig Hirschfeld referiert in diesem quirligen Zeitdokument, dass konservative Lokale wie das Sacher noch in den 1920er-Jahren keine alleinstehenden Frauen bedienten. Auch die verruchten „Apachenkneipen oder Nachtcafés“ Peter Altenbergs „gibt’s zum Teil nicht mehr, zum Teil hat es sie nie gegeben“, doch heißt es beruhigenderweise, Besucher würden im Wiener Nachtleben zwar „gewurzt, aber nicht beraubt“. Und zur Korso-Blütezeit? Da fuhren „die Autos in der Kärntner Straße unwillkürlich langsamer, als führen sie auch nur spazieren oder betrachteten einander“.

Der Prater, überflutet von „Ungetümen der amerikanisierten Lustigkeit“, wirkt auf Hirschfeld in der Zwischenkriegszeit bereits „unwienerisch (. . .), mir scheint, weil die tschechischen Dienstmädchen und die ungarischen Soldaten fehlen“. Im Burgtheater, „früher Privattheater des Kaisers, heute Defizittheater der Republik“, träfe man jene berühmten Dichter, „die sonst meist weltabgewandt in ihren Cottage- und Landvillen sitzen“. Dem weiblichen Geschlecht sage man prinzipiell keine Affären nach, sondern „ständige Tänzer“, doch trotz Shimmy, Blues und Charleston meide „die Jazz“ sämtliche Heurigenlokale: „Hier heißen die Menschen noch Pepi, Toni oder Mariedl, und keiner wird Fred, Robby, kein Mädchen Renée gerufen.“ Überhaupt sei der tendenziell arglistige Wiener „auf die Dauer nicht sehr lustig und übermütig“, ja sogar die Sonntagsausflügler wirkten, „als könnten sie es nicht mehr erwarten, heimzukehren in den Wochentag“.

Die primäre Frage in der Stadt würde lauten: „Ist er a Jud?“ Hirschfeld rät Touristen: „Seien Sie während Ihres Aufenthalts nicht zu interessant und originell, sonst sind Sie hinter Ihrem Rücken plötzlich ein Jud (. . .) Jetzt bin ich beinah in die Politik hineingeraten. Aufrichtig gesagt: ich kenne mich auf diesem Gebiet nicht besonders aus.“ Wien dankte dem Autor auf seine Weise, deportierte ihn 1942 als 59-Jährigen nach Auschwitz, wo er ermordet wurde.

www.amanshauser.at

("Die Presse - Schaufenster", Print-Ausgabe, 21.02.2020)

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