Anna Burns' „Milchmann“: Lebe bloß nicht ungewöhnlich!

Anna Burns erzählt die Geschichte eines starken Mädchens, das sich nicht anpassen will. Oder kann.
Anna Burns erzählt die Geschichte eines starken Mädchens, das sich nicht anpassen will. Oder kann.Eleni Stefanou
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Eine grandiose Schilderung über das Leben im Nordirland der 1970er-Jahre und eine an sich selbst irre werdende Gesellschaft.

Schon der erste Satz krallt sich fest: „Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.“ Und es wird nicht der letzte sein, der unter die Haut geht. Denn Anna Burns ist mit „Milchmann“ ein grandioses Buch gelungen, für das sie 2018 den renommierten Booker Prize gewann – als erste nordirische Schriftstellerin. Der Jury-Vorsitzende sagte bei der Verleihung, er habe sich manche Passagen des Buchs laut vorgelesen, einfach aus Genuss an Burns' Formulierungen.

Der erste Satz verrät nicht nur einiges, er täuscht auch über den Charakter des Romans hinweg. „Milchmann“ ist kein Krimi, sondern ein innerer Monolog in bester irischer Tradition über das Leben im Nordirland der 1970er- Jahre, als die „Troubles“ zwischen Katholiken und Protestanten so richtig in Gang gekommen waren. Mitten drin lebt die Protagonistin, ein 18-jähriges Mädchen, das wie alle anderen Figuren (mit Ausnahme des einen oder anderen Spitznamens) unbenannt bleibt. Sie ist höchstens „Mittelschwester“ „Vielleicht-Freundin“ oder „Mitteltochter“ (eines von zehn Kindern dieser streng katholischen Familie).


Die, die im Gehen liest. Später wird noch ein anderes Label dazukommen: „Die, die im Gehen liest“. Denn das Mädchen will von der gewalttätigen Realität um sich herum nichts wissen und steckt auch im Gehen ihre Nase immer in ein Buch – und zwar ausschließlich in solche aus dem 19. Jahrhundert oder älter. Denn das 20. Jahrhundert mag sie definitiv nicht.

Derartige Ungewöhnlichkeit aber ist in diesen „rohen Zeiten“ sehr gefährlich. Zum einen erweckt das Mädchen damit die Aufmerksamkeit des „Milchmanns“, eines hochrangigen, deutlich älteren und verheirateten Paramilitärs. Zum anderen ölt sie mit ihrer „Habt's mich gern“-Attitüde die gnadenlose Gerüchtemaschine einer Gruppe im Ausnahmezustand. Denn die nordirischen Katholiken empfanden sich in Zeiten von „Milchmann“ als belagerte Gesellschaft, bedroht von der anderen Glaubensseite genauso wie von einem feindlichen (britischen) Staat, den sie nicht anerkannten. Ihr Überleben wurde an die Einhaltung strikter Regeln geknüpft, die sowohl von den Paramilitärs als auch von einer Allianz aus Küche und Kirche, den Frauen und den Pfarrern, überwacht wurden. Für Abweichung war kein Platz, Gewinnerin war die Borniertheit.

„Milchmann“ schildert auf eindrucksvolle Art, wie ein stinknormales, aber anfangs durchaus wehrhaftes junges Mädchen in dieser Doppelmühle zerrieben wird: zwischen dem „Milchmann“ auf der einen Seite, der wie eine Spinne sein Opfer aussucht, verfolgt und, ohne in Wort oder Tat explizit zu werden, es auf den unausweichlichen Ausgang dieser unerwünschten sexuellen Annäherung vorbereitet; und einer gnadenlosen Gemeinschaft, die sich an ihren eigenen Fantasien und der Macht des Gerüchts aufgeilt, ohne sich von Fakten abschrecken zu lassen.


Der Humor baumelt vom Galgen. Umso erstaunlicher ist bei dieser Ausgangslage, mit welcher Mischung aus Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit Anna Burns ihre Geschichte erzählt (wahrlich ihre, zumindest zarte autobiografische Züge trägt sie). Die Szenen mit den „Kleinen Schwestern“ etwa sind bezaubernd. Das namenlose Mädchen trägt den Roman mit seiner wandelbaren Stimme: gelassen, angespannt, selbstbewusst, verunsichert, abgeklärt, naiv – von Anna-Nina Kroll kongenial übersetzt. Man drückt ihr wahrlich die Daumen, dieser sturen Person. Und dass sie sich ihren Humor bewahrt. Auch wenn der manchmal vom Galgen baumelt.

Neu Erschienen

Anna Burns
„Milchmann“

Übersetzt von
Anna-Nina Kroll
Tropen Verlag
452 Seiten
25,80 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2020)

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