Gender und Sprache

Er, sie, er*sie: So geschlechtssensibel kann Deutsch sein

Mikel Polzer
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In den USA wurde das genderinklusive „they“ zum Wort der Zehnerjahre gewählt. Auch in skandinavischen Sprachen gibt es neue Pronomen für das dritte Geschlecht. Wie aber bewegt sich das Deutsche, um jenseits des Gendersterns Transgender- und intergeschlechtlichen Personen passende Ausdrucksformen zu bieten?

„Das ist die einzig sinnvolle Lösung in der Suche nach einem geschlechtsneutralen Fürwort für die englische Sprache“, sagte der „Washington Post“-Textchef Bill Walsh 2015 über das im Singular gebrauchte Pronomen „they“. Die ehrwürdige Zeitung nahm in jenem Jahr das Wort erstmals in ihren Styleguide auf, und wenige Monate später kürten Mitglieder der akademischen American Dialect Society es zu ihrem Wort des Jahres.

Vor wenigen Wochen setzte dasselbe Gremium nach und wählte das „singular they“ noch vor anderen Jahresregenten wie „meme“ und „climate“, „#BlackLivesMatter“ und „MeToo“ zum Wort des vergangenen Jahrzehnts. Diese Entscheidung sollte einer Entwicklung Tribut zollen, im Rahmen derer „neue Ausdrucksmöglichkeiten für Genderidentitäten für umfassende Diskussionen gesorgt haben“. Das ist bemerkenswert, spiegelt die Entwicklung von „they“ doch eine Öffnung der Sprache für neue gesellschaftliche Realitäten wider.

What is your pronoun?

Denn diese Form ermöglicht es, Personen auf geschlechterinklusive Weise zu bezeichnen und eine Leerstelle zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht zuzulassen. „This is my friend. They are a teacher“ ist etwa ein Beispiel für einen Satz, in dem völlig unklar bleiben darf, welchen Geschlechts die erwähnte Lehrperson ist. Auch die Frage „What is your pronoun?“ zielt auf diesen Aspekt ab und ist neuerdings gar nicht mehr so selten im englischen Sprachraum zu hören.

Ohnehin ist der Gebrauch von „they“ als Alternative zu „he“ und „she“ seit dem Mittelalter belegt, geriet ab dem 18. Jahrhundert in Vergessenheit und erlebt nun im 21. Jahrhundert eine Renaissance. Die wachsende Sichtbarkeit von Communitys, die sich nicht über das binäre Geschlechterverhältnis definieren, und eine entsprechende neue Bewusstseinslage unter allen Sprechenden sind entscheidend für diese linguistische Entwicklung.

Auch in skandinavischen Sprachen sind vergleichbare Erscheinungen zu beobachten, „hän“ im Finnischen etwa und „hen“ im Schwedischen. Handelt es sich bei „hän“ ebenfalls um eine schon vor Jahrhunderten erstmals belegte Form, wurde „hen“ als Alternative zu den persönlichen Fürwörtern „han“ und „hon“ erst in den 1960er-Jahren geprägt: Fünf Jahrzehnte nach seinem ersten Auftauchen wurde „hen“ 2015 erstmals in die offizielle „Wortliste“ der Schwedischen Akademie aufgenommen.

Anders Svensson, Chefredakteur der Zeitschrift „Språktidningen“, äußerte sich in einer Kolumne positiv über „das Größte, das Pronomen seit dem 17. Jahrhundert widerfahren ist“. Svensson hebt in seinem Text hervor, dass Fürworte, ungleich etwa Nomen und Adjektiven, eine starre Wortkategorie sind, die kaum je von Neuzugängen betroffen ist. Umso bedeutsamer ist es, dass Transformationsprozesse in der Gesellschaft sogar auf pronominaler Ebene gespiegelt wurden.

Mikel Polzer gestaltete diesen Cartoon für eine Broschüre der Bildenden über genderinklusiven Sprachgebrauch.
Mikel Polzer gestaltete diesen Cartoon für eine Broschüre der Bildenden über genderinklusiven Sprachgebrauch.Mikel Polzer

Höchstgerichtsbeschlüsse in Deutschland und Österreich

Und im Deutschen? Da besteht seit Beschlüssen des deutschen Bundesverfassungsgerichts 2017 und des österreichischen Verfassungsgerichtshofs 2018 in der Amtssprache die Notwendigkeit sicherzustellen, dass „insbesondere Menschen mit alternativer Geschlechtsidentität vor einer fremdbestimmten Geschlechtszuweisung“ zu schützen seien (VfGH).

Als die Universität Wien Ende 2019 aus diesem Beschluss Konsequenzen zog und in einer Leitlinie zum geschlechterinklusiven Sprachgebrauch empfahl, an geeigneten Stellen den Genderstern vor die Endung zu setzen, blieb dies nicht unkritisiert.

Noch sperriger als etwa das seit den Achtzigerjahren gebräuchliche Binnen-I erschienen vielen Anredeformen wie „Liebe*r Studierende*r“. Entsprechende Kommentare ließen nicht auf sich warten. Anders als das Binnen-I bietet der Genderstern jedoch den Vorteil einer non-binären Bezeichnung von Geschlechtern: Die sich mit Asterisk auftuende Leerstelle soll Raum bieten für alle, die sich nicht als entweder männlich oder weiblich wahrnehmen.

Auch die mündliche Realisierbarkeit soll durch Pausieren nach dem Asterisk gewährleistet sein. Anders als Kritikerinnen und Kritiker, denen die angeregten Neuerungen sauer aufstoßen (und die von ihnen wohl nicht persönlich betroffen sind), bedeuten sie für intergeschlechtliche und Transgender-Personen sowie all jene, die sich außerhalb der binären Geschlechterordnung situieren, einen wesentlichen Fortschritt. Das berühmte Wittgenstein-Zitat „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ erfährt hier seine Anwendung – wenn es nämlich um Grenzen geht, die bestimmte Menschen aus der Sprache ausschließen, indem diese sie nicht mitgemeint sein lässt.

Sichtbarkeit in Sprache.

„Es gibt viel Defensive und Unverständnis von Menschen, die das weniger betrifft. Da hilft es auf jeden Fall, sich in die Lage zu versetzen: Wie würde man sich selbst fühlen, wenn man ständig falsch angesprochen und behandelt werden würde?“, sagt Tinou Ponzer vom Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreichs und ergänzt: „Sprachliche Sichtbarkeit ist essenziell für die physische und psychische Gesundheit und die Lebensqualität – denn sie zeigt uns: Du bist wertvoll und akzeptiert, so wie du bist.“

Auch im Deutschen entstehen in den betroffenen Communitys schon Vorschläge für neue Pronomen analog zum Singular-„they“. Einige werden auf der Web-Plattform Nichtbinär-Wiki gesammelt: Sie reichen von einer wörtlichen Übernahme von „they“ und „hen“ über Lehnwörter („dey“) bis hin zu Wortneuschöpfungen wie „er*sie“, „ey“ oder dem von „Person“ abgeleiteten Fürwort „per“. Den Vornamen in der dritten Person anstelle des Pronomens zu übernehmen, ist ebenfalls eine der angeregten Optionen.

»»2018 gab es noch nicht genug Basisdaten, wir haben weiter beobachtet und sehen, dass sich einiges auf diesem Gebiet tut. «

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Sabine Krome, Geschäftsführerin des Rats für deutsche Rechtschreibung

Im allgemeinen Sprachgebrauch machen sich diese Varianten als ungewohnt, für viele als unelegant aus. Das reicht für viele aber nicht als Begründung, sich dem ausdrücklichen Wunsch eines Gegenübers nach geeigneten Pronomen zu widersetzen. „Das Variable, etwas Drittes, nichts von den beiden Geschlechtern – vieles, das in der Identität vorherrschen kann, soll auch in der grammatischen Selbstbezeichnung Platz finden“, sagt dazu Ísabel Petric vom Verein TransX für Transgender-Personen.

Karoline Irschara, die an der Universität Innsbruck zu Genderlinguistik forscht, sieht besonders auf der Ebene des Pronomens noch eine lange Entwicklung vorher. „Wenn das Pronomen in der Community weitgehend individualisiert wird, dann ist es schwierig, dass sich in absehbarer Zukunft eine neue Sprachnorm etabliert“, beschreibt sie eine Situation, die im Deutschen noch weit vom Verbreitungsgrad des englischen „they“ entfernt ist. Auch die Forschungsliteratur, so Irschara, sei derzeit noch in ihren Anfängen.

Die oberste Sprachinstanz.

Jene, die sich gegen den Genderstern aussprechen, verweisen oft auf eine Veröffentlichung des Rats für deutsche Rechtschreibung vom November 2018, in der Empfehlungen zur geschlechtergerechten Schreibung ausgesprochen werden. Manche der hier definierten Kriterien scheinen gegen den Asterisk in der Wortmitte zu sprechen.

Gegenüber der „Presse am Sonntag“ bekräftigt jedoch Sabine Krome, Geschäftsführerin des Rates, dass die Zeit seit der Publikation nicht stillgestanden sei. „2018 gab es noch nicht genug Basisdaten, wir haben weiter beobachtet und sehen, dass sich einiges auf diesem Gebiet tut.“ Während es, wie Krome wiederholt betont, die primäre Aufgabe des Rates sei, die Einheitlichkeit der Rechtschreibung zu gewährleisten, und man sich darum wohl scheut, Ausnahmeregelungen einzuführen, lässt sie die Sensibilität des Rates für das Phänomen erkennen. „Wir können nicht von heute auf morgen etwas als Norm vorschlagen, das von der Mehrheit der Sprechenden abgelehnt werden würde“, sagt sie zwar. Eine aktualisierte Fassung der Empfehlungen von 2018 sei aber bald zu erwarten. „Wir überlegen, wie man Varianten anders als durch das Schaffen einer neuen Norm in das Regelwerk der Sprache einbringen kann.“

Veränderungen durchbringen.

In dieselbe Richtung gehen Beobachtungen der „Duden“-Redaktion, deren Leiterin, Kathrin Kunkel-Razum, zwar angibt: „Wir sehen derzeit noch keine neue Norm, die sich durchsetzt.“ Zahlreiche Anfragen an den Verlag, häufig als Folge der Höchstgerichtsbeschlüsse, lassen sie aber mutmaßen: „Das Thema beschäftigt die Menschen. Wir raten zu Ruhe und Gelassenheit, haben aber definitiv den Eindruck, dass Sprache etwa wegen Fragen der Political Correctness und des Genderns heute wieder ein größeres Thema ist als vor zehn, fünfzehn Jahren.“ Eine Ratgeberserie, die Duden mit dem ehrgeizig angelegten Titel „Richtig gendern“ begann, wird im Frühling dieses Jahres mit dem „Handbuch geschlechtergerechter Sprache“ fortgesetzt. Aspekte der non-binären Geschlechterdarstellung sollen darin stärker thematisiert werden als zuvor.

Für die Analyse von Textcorpora, die den Beobachtungen des Rechtschreibrates und der „Duden“-Redaktion zugrunde liegen, spielen besonders journalistische Texte eine wichtige Rolle. Kunkel-Razum hebt wegen ihrer großen Verbreitung ausdrücklich die Frauenzeitschrift „Brigitte“ hervor, die Mitte 2019 den Genderstern einführte.

Die Fürwort- Frage

They. Im Englischen als genderneutrales Pronomen im Singular im Einsatz, seit dem Spätmittelalter in diesem Gebrauch. Rückblickend „Word of the Decade“ in den USA.

Hen. Schwedische Alternative zu „han“ (m.) und „hon“ (w.). Neu geprägt in den Sechzigerjahren, seit 2015 offiziell Teil der schwedischen Sprache.

Dey, per. Auch im Deutschen gibt es Alternativen zu „er“ und „sie“ – noch befindet man sich in einer Phase des Sammelns und Erhebens.



Regelrechte Hasstiraden.

Claudia Münster, stellvertretende Chefredakteurin der „Brigitte“, beschreibt Bemühungen der Redaktion wie folgt: „Wir formulieren konsequent gendergerecht und bemühen uns dabei, das Sternchen nicht inflationär zu gebrauchen. Viel lieber ist es uns, wenn die Redakteurinnen innehalten und kreativ eine andere Lösung finden.“ Münster berichtet ebenso wie Kunkel-Razum von gemischten Reaktionen auf die redaktionellen Vorstöße. An „regelrechte Hasstiraden“, die sich über die „Duden“-Redaktion nach der Veröffentlichung von „Richtig gendern“ ergossen, erinnert sich Letztere sogar.

Allein angesichts solcher teils mehr als schroff formulierten Wortmeldungen lässt sich erahnen, mit welchen Reaktionen Transgender- und intergeschlechtliche Menschen in ihrem Alltag konfrontiert sind – und zwar wohl nicht nur, wenn sie alternative Pronomen oder Gendersterne für sich beanspruchen.

„Sprache zu transformieren ist nicht so einfach“, sagt Ísabel Pirsic vom Verein TransX. „Wenn man aus der Binarität hinauswill, muss man sich dafür einsetzen, dass die eigene Selbstbeschreibung anerkannt wird.“ In Vorstellungsrunden darauf hinzuweisen, dass man ein alternatives Pronomen für sich beansprucht, erfordert Courage. Der Einsatz könnte sich aber lohnen: Denn die Sprache stößt mit ihren Möglichkeiten nur selten an unverrückbare Grenzen.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2020)

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