Psychologie

Ist gerecht nur das, was besser überleben lässt?

Dass ein geplanter Mord schwerer als Totschlag im Affekt – das scheinen Intuitionen zu sein, die Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen teilen.
Dass ein geplanter Mord schwerer als Totschlag im Affekt – das scheinen Intuitionen zu sein, die Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen teilen.(c) REUTERS (John Kolesidis)
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Eine Studie zeigt: Unsere rechtlichen und moralischen Intuitionen stimmen mit den ältesten Gesetzen aus Mesopotamien und China überein. Die Forscher deuten das Ergebnis rein darwinistisch.

Schlimm ging es zu in Babylonien. Es kam offenbar öfters vor, dass ein Mann einem anderen ein Auge ausbiss. Immerhin wurde solch eine Missetat geahndet. Das wissen wir aus dem Codex Ešnunna, einem der ältesten Gesetzestexte, vor 3800 Jahren in Keilschrift auf Tontafeln gemeißelt. Er kennt auch den Fall, dass jemand eine Sklavin aus fremdem Besitz vergewaltigt. Im alten China sah der Tang-Kodex (653 v. Chr.) Strafen vor, wenn jemand seinen älteren Bruder schlägt, die nächtliche Ausgangssperre missachtet oder seinen Sklaven tötet, obwohl dieser nichts angestellt hat. All das wirkt auf uns schrecklich fremd, archaisch: Es sollte doch weder Sklaverei noch Ausgangssperren geben, und niemand sollte seine Geschwister schlagen, egal ob älter oder jünger. Zeugnisse einer barbarischen Zeit, fern von unserem Rechtsverständnis?

Vieles scheint dann doch vertraut: Raub, Giftmord, Bestechung und Ruhestörung – damit schlagen sich auch heute noch Gerichte herum. Und es mag zwar nur noch selten vorkommen, dass ein nicht ordentlich angebundenes Rindviech einen Passanten aufspießt oder ein Arzt seine Medizin so falsch zusammenmischt, dass ein Patient stirbt – aber fahrlässige Tötung gibt es weiter in vielen Formen. Wie nah oder fern stehen uns also Rechtssysteme aus ganz anderen Zeiten und Kulturen? Und was verrät uns das über den Ursprung des Rechts?

Diesen Fragen sind der kanadische Psychologe Daniel Sznycer und der US-Jurist Carlton Patrick empirisch nachgegangen (Nature Human Behaviour, 24. 2.). Sie ließen Laien aus den USA und Indien Straftatbestände aus den uralten Gesetzen einschätzen: Wie hoch sollen Haft- oder Geldstrafe sein, wie moralisch falsch ist die Handlung?

Selektionsdruck oder Sittengesetz

Die beiden Kodizes bieten eine einfache Metrik an: Die meisten Delikte ließen sich (auch) monetär büßen, mit orientalischen Silberschekeln oder chinesischen Kupfermünzen. Zusätzlich fragten die Forscher Tatbestände aus dem aktuellen US-Recht ab.

Das Ergebnis: Inder und Amerikaner sind sich ziemlich einig in ihren juristischen und moralischen Intuitionen. Vor allem aber: Wie die Laien die Schwere von Vergehen reihen, korreliert durchgängig positiv mit den tatsächlichen Strafausmaßen in den Gesetzen, den modernen wie den Tausende Jahre alten. Natürlich sind die Strafen heute meist weniger hart als in früheren Epochen. Aber dass etwa Absicht schwerer wiegt als Fahrlässigkeit oder ein geplanter Mord schwerer als Totschlag im Affekt – das scheinen Intuitionen zu sein, die Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen teilen.

Was aber lässt sich daraus schließen? Dass Recht aus der Religion abstamme, ist wissenschaftlich längst widerlegt: Archaische Gesellschaften kennen nichtreligiöse Verbote, und sie unterscheiden zwischen starren religiösen und anpassungsfähigen rechtlichen Normen. Die Studienautoren sehen nun auch Theorien geschwächt, die von einer kulturellen Evolution im konkreten Umfeld ausgehen – dazu seien die verglichenen Kulturen zu verschieden und geografisch zu weit voneinander entfernt. Auch eine willkürliche Setzung durch Richter oder Rechtsgelehrte schließen sie aus.

Aber sie gehen wohl zu weit, wenn sie damit eine rein darwinistische Erklärung für erwiesen halten: Durch Selektionsdruck hätten sich beim Homo sapiens Hirnstrukturen entwickelt, die unsere Intuitionen über Recht und Unrecht festlegen. Damit wäre jeder Versuch delegitimiert, diese Intuitionen auf eine praktische Vernunft zu begründen und sie so argumentierbar zu machen. Wie es die Tradition des Naturrechts tut, auf der die Idee der Menschenrechte fußt. Statt von Gehirnen, die aufs Überleben getrimmt wurden, geht sie von universellen Werten und Prinzipien aus, die für jeden einsichtig sind.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.02.2020)

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