Die Ich-Pleite

Zwischen Auszugs- und Rachefantasien

(c) Carolina Frank
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Mit den Nachbarn geht es einem wie mit den Kindern: Mit den schlimmen beschäftigt man sich mehr.

Wenn ein nettes Ehepaar mit zwei süßen Kindern einzieht, kann es sein, dass ich es erst kennenlerne, wenn die süßen Kinder schon längst wieder ausgezogen und sie bald reif fürs Seniorenheim sind. Aber von der Studenten-WG unter mir erfahre ich jede kleine Umzugsbewegung. Jeden Einzug, jeden Auszug und jeden Besuch. Ich bin sicher, dass sich die Studenten-WG nicht einmal untereinander so gut kennt, wie ich sie kenne. Namentlich zwar nicht. Aber per Musikgeschmack. Sicher, meine Nachbarn würden die Augen gegen die Zimmerdecke, also in meine Richtung, verdrehen, wenn sie wüssten, dass für mich im Grunde alles gleich klingt. Laut nämlich. In ungefähr einem von hundert Fällen, in denen ich auf meinem Sofa sitze und zwischen Auszugsfantasien und Rachefantasien schwanke, klopfe ich bei den Studenten. Und in ungefähr einem von hundert Fällen öffnet mir jemand. In den 99 anderen Fällen hören sie mich nicht. Wegen der lauten Musik, vermute ich. Vielleicht verstecken sie sich aber auch vor mir. Denn ich bin bestimmt ihr personifiziertes Muttertrauma. Es zieht ja niemand von Attnang-Puchheim nach Wien, damit ihm hier wieder jemand am „Volume“-Knopf dreht. Aber das Gute ist: Man wird wieder jung! Ich lebe mit den Studenten mit. Ich freue mich fast genauso auf das Semesterende wie sie. Ich träume von ihren langen Ferienjobs, vielleicht als Surflehrer an irgendeinem coolen Strand voller hipper Menschen, die ebenfalls gern Musik hören. Und ein bisschen hoffe ich, dass sie im Duty-free einen so tollen Kopfhörer finden, dass sie ihn auch zuhause nicht mehr absetzen wollen. Dortbleiben wäre die andere Möglichkeit.

("Die Presse - Schaufenster", Print-Ausgabe, 28.02.2020)

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