Tirol

Kaunertal: Der Tiefschnee in der schönsten Sackgasse der Alpen

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Tausend und mehr Höhenmeter aufwärts schwitzen, um schnell wieder unten zu sein: Das stille, hochalpine Kaunertal ist eine Nische, speziell für Tourengeher.

Es wäre schon fatal gewesen, hätte der Wiener Friedrich Zieritz in Tirol seinen Bauplan aus dem Jahr 1908 in die Tat umgesetzt: Der Ingenieur aus der Wohllebengasse im vierten Bezirk konstruierte fünf Wasserkraftanlagen im Tiroler Kaunertal, auf dem Papier. Zur Realisierung kam es nicht. Zum Glück für die Nachkommen der Bewohner und den Fremdenverkehr. Die wohl schönste Sackgasse der Alpen endete nicht als Tiroler Atlantis. Abgetaucht wird trotzdem: im bitterkalten Stausee, in der winzigen Therme und manchmal auch in fluffigen Neuschnee.

Je näher er kommt, desto lauter und eifriger heult das Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS) auf. Skibergsteiger Reinhold Blank hebt den Daumen. Reine Kontrollmaßnahme und Skibergsteigerroutine. Das Gerät, kompakt wie ein Mobiltelefon, wird in einem Holster um den Rumpf geschnallt und die Jacke übergezogen. Lawinenschaufel und Sonde sind eingepackt. Die Harscheisen bleiben zurück, denn es gibt Neuschnee. Geschwind die Kunststofffelle auf die Skier picken, die Skibindung umstellen und die Stocklänge anpassen. Bereit zum Losziehen.

Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen die Gipfel des Kaunergrats kitzeln, geht es mit einem monotonen Schlurfen in Richtung Stupfarriköpfle. An die tausend Höhenmeter sind geplant. Der Atem kringelt Dampfwölkchen in den kalten Morgen. Der Himmel wolkenlos, der Hang makellos. Es sind noch keine Tourengeher zuvorgekommen. Das Gebiet anfangs noch spurenfrei. Bei Fremden ist es kaum bekannt, bei Einheimischen für eine schnelle Vormittagstour beliebt.

Im Rücken liegen die drei Postkartenskigebiete Fiss, Ladis, Serfaus – die sogenannte Sonnenterrasse für Familien mit Ferien. Links reihen sich die Berggipfel, leuchtend, schneebedeckt. Rechts befindet sich das noch im Schatten gelegene Kaunertal, umarmt von den Ötztaler Alpen, umrandet von mehr als einem Zehntel aller Dreitausender Österreichs; 72 an der Zahl. 20 Kilometer lang und maximal 300 Meter breit ist das Trogtal. 1200 Steinböcke zählt man im Kaunertal – es ist die größte Steinwildkolonie der Ostalpen. Aber es leben nur halb so viele Menschen zwischen den Dörfern Prutz und Grasse. Jeder kennt hier jeden. Und jeder kennt hier Alexander Van der Bellen. Der Bundespräsident, von den 602 Einheimischen Sascha genannt, ist in einem Zollhaus in der Ortschaft Feichten aufgewachsen. Immer wenn der ranghöchste Mann im Staat zu Besuch sei, dann rauchten sie eine zusammen, erzählt Reinhold Blank.

Dorf ohne Après-Trara

Es gibt nicht viel im Dorf. Ein paar Sportartikelgeschäfte, Supermärkte, einen Gemeindebau, Bauernhöfe, Hotels und das modernisierte Prestigeobjekt neben der Durchzugsstraße: das Quellalpin, ein topmodernes Hallenbad. Das Wenige und damit sehr Beschauliche ist genau das Besondere. Es dröhnt keine Après-Ski-Musik aus Schirmbars, und niemand torkelt mit geschulterten Skiern und Schnapsfahne zwischen Straße und Gehsteig herum.

Feichten ist nicht Sölden, ist nicht Ischgl, ist nicht St. Anton. Feichten ist weitgehend unberührt. Es gibt keinen Sensationstourismus, keine opulenten Eröffnungsspektakel mit Gesangsstars. Schlicht: nicht viel. Der Ruhe suchende Fremde kann in dem Seitental des Tiroler Oberlandes im Sommer kilometerlang mutterseelenallein von Hütte zu Hütte unter dem Kaunergrat wandern. Wer im Winter freie Hänge zum Hinaufspuren und Herunterbrettern sucht, muss selten Gegenverkehr fürchten.

Was das kitschige Idyll stört und so manchen Flachlandschlurfer auf dem Weg nach oben irritiert: Setzungsgeräusche. Ein dumpfes Knacken. Es bilden sich Risse in der Schneedecke. Der Berg lebt. Reinhold Blank, von allen im Tal Blanki genannt, beruhigt. Nicht nur dem Schnee wird unter der Frühlingssonne warm. Allmählich dampft es unter der winddichten Jacke. Auslüften und Energiespeicher auffüllen; mit Brot, Jägerwurst und Haselnussschnitten. Das „Einsermenü, das auch vor Fernweh schützt“, sagt Blanki. In den 1970ern wanderte der fast 70-Jährige nach Neuseeland aus. Es war ihm, dem bunten Hund, zu eng im Kaunertal. Skifahrerisches Können war damals auf der Südinsel gefragt. Blank wurde Skischulleiter, im Sommer war er Farmhelfer. Dann wurde er vom Kanadischen Skiverband als Trainer abgeworben und bereiste später die weite Welt. So schön es da draußen sein mochte, es hat den Ungestümen wieder in sein Heimatdorf gezogen.

Dahin zurück geht es nach vier Stunden Aufstieg. Der Gipfelgruß bleibt aus, zu groß ist die Gefahr von Lawinen in der zu querenden Senke. Blanki, einmal selbst von einem Schneebrett mitgerissen und im Weiß begraben, will Sicherheit. Nach 800 Höhenmetern ist Schluss. Kurze Jausenpause, Bergfotos, Abfellen, Skibindung umstellen und Kleidungswechsel. Los geht's. Das Entgelt für die Anstrengung: Tiefschneeschwingen. Es fühlt sich an, als würde man mit einem Messer Linien durch weiche Butter ziehen. Herrlich. Jeder Schwung ist purer Genuss. Aber – die Misere jedes Skibergsteigers – die Abfahrt ist von viel zu kurzer Dauer.

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