Soziologie

Wer ist mit „wir“ und den „Unsrigen“ gemeint?

Die Soziologen greifen auf das Konzept der Solidarität zurück (Symbolbild).
Die Soziologen greifen auf das Konzept der Solidarität zurück (Symbolbild).(c) imago/Panthermedia (tony4urban)
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Wie das Konzept der Solidarität dabei hilft, Gräben in der Gesellschaft besser zu detektieren, zeigen die Ergebnisse eines österreichisch-ungarischen Forschungsprojekts. Fest steht, wir haben es nicht mit einer Spaltung entlang einer Konfliktlinie zwischen Extrempositionen zu tun.

Sie versprühen wenig Optimismus, die soziologischen Sittenbilder der Gegenwart. So bescheinigten deutsche Größen des Faches der heutigen westlichen Gesellschaft eine massive Entsolidarisierung (Wilhelm Heitmeyer) und soziale Exklusion (Martin Kronauer) bestimmter Gruppen. Diese Kluft entlang der Linien sozialer Ungleichheit, zwischen „oben“ und „unten“ genauso wie entlang von Sprache und Herkunft, wird zunehmend zum demokratiegefährdenden Problem.

Es entsteht der Eindruck, dass die Entwicklungen der vergangenen Jahre zu einer Polarisierung der Gesellschaft beigetragen haben. Vor allem im Umgang mit Zuwanderung und Geflüchteten sind sich die europäischen Länder bis heute uneins. Aber entspricht dieses politisch und medial oft bemühte Bild der gespalteten Gesellschaft der Realität? Dieser Frage gingen Soziologen rund um Jörg Flecker von der Universität Wien in Österreich und Ungarn in dem vom FWF geförderten Forschungsprojekt „Solidarität in der Krise“ (Socris) nach. Ergänzend dazu untersuchte ein Wiener Forschungsteam in einem Citizen-Science-Projekt, ob soziale Medien wie Facebook, Twitter oder YouTube soziale und politische Spaltungen verschärfen. Die wesentlichen Ergebnisse der Studie können in dem Buch „Umkämpfte Solidaritäten“ nachgelesen werden.

Sieben Mal Solidarität

Das für die gegenwärtige gesellschaftliche Atmosphäre bezeichnendste Ergebnis der Auswertung der 48 Interviews mit Befragten zwischen 18 und 63 Jahren: Während die Finanz- und Wirtschaftskrise wenig deutliche Spuren in den Erinnerungen zurückgelassen haben, war die sogenannte Flüchtlingskrise stark präsent. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Spaltungsmetapher zwar bestimmten Phänomenen und Gefühlslagen entspricht, jedoch zu kurz greift, um die gesellschaftliche Realität in ihrer Komplexität abzubilden. Die tatsächlichen Spaltungslinien in der Gegenwartsgesellschaft seien vielfältiger und weniger polar, als man gemeinhin annehmen möchte.

Um Ausschlüsse und Zusammenhalte gleichzeitig in den Blick nehmen zu können, greifen die Soziologen auf das Konzept der Solidarität zurück. Sie verstehen Solidarität dabei als ein Kontinuum mit idealtypischen Extrempolen. Auf der einen Seite steht die universelle Solidarität, die niemanden ausschließt, auf der anderen Seite befindet sich ein individualistischer Zugang, der vorrangig auf das Ich und die eigene Familie fokussiert. In der Auswertung der 70 Stunden Gesprächsmaterial kristallisierten sich sieben verschiedene Typen von Solidarität heraus, deren Skizzierung anhand von Fallgeschichten in dem Buch viel Raum eingeräumt wird. Den Typen entsprechen in der Gesellschaft auffindbare Muster, die sich aus bestimmten Verhältnissen und Vorstellungen von Solidarität ergeben. Sie stehen für folgende voneinander abgegrenzte Haltungen: füreinander einstehen, sich für andere einsetzen, fordern und fördern, Leistung muss belohnt werden, die moralische Ordnung erhalten, mehr für die Unsrigen tun und unter sich bleiben. Eine zentrale Rolle in den Solidaritätsvorstellungen kommt dem Leistungsprinzip und dem Sozialstaat zu. Solidarität wird wahlweise an bestimmte Bedingungen wie Leistung oder Rechtschaffenheit geknüpft.

Moral, Nation oder Klasse

Nach Georg Simmel entsteht Individualität, weil jeder Mensch in einem einzigartigen Schnittpunkt zwischen mehreren sozialen Kreisen wie Berufsgruppe, Geschlecht, Religion, Essgewohnheit und Lebensstil steht. Die Gegenüberstellung von natürlich und homogen dargestellten Gruppen in der öffentlichen Debatte ergeben demnach wenig Sinn. Die Ergebnisse der Socris-Studie machen jedoch deutlich, wie sich gesellschaftliche Spaltungslinien in der Verwendungsweise des Wörtchens „wir“ spiegeln. Die unterschiedlichen einzelnen Zugehörigkeiten treten situationsbedingt in den Vorder- oder Hintergrund. „Wir“ kann etwa nationalstaatlich verstanden werden, aber auch als Abgrenzung zu den „Obigen“ oder mit Bezug auf die eigene soziale Lebenswelt bzw. auf moralische Werte eingesetzt werden. In der recht ambivalenten Haltung der meisten – nur wenige der Befragten konnten ideologisch gefestigten politischen Milieus zugeordnet werden – sehen die Studienautoren zwar große Gefahren, aber auch Chancen für eine inklusive Gesellschaft. Vorausgesetzt, die Politik konzentriert sich auf gemeinsame Anknüpfungspunkte zwischen den Gruppen.

Carina Altreiter et al.,  Umkämpfte Solidaritäten, Promedia, 224 Seiten, 17,90 Euro
Carina Altreiter et al., Umkämpfte Solidaritäten, Promedia, 224 Seiten, 17,90 Euro(c) Beigestellt

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.02.2020)

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