Wort der Woche

Was bedeutet exponentielles Wachstum?

Bei der Einschätzung von exponentiellem Wachstum ist der Mensch überfordert. Die Corona-Pandemie ist ein gutes Beispiel dafür.

Wachstumsprozesse sind allgegenwärtig – in der Natur genauso wie in sozialen Systemen. Analysiert man diese Prozesse mathematisch, findet man zwei grundlegend verschiedene Dynamiken. Beim linearen Wachstum gibt es in jeder Zeiteinheit einen fixen Zuwachs. Das ist etwa beim Stricken so – jede Minute wächst ein Pullover um bis zu 111 (Weltrekord!) Maschen. Beim exponentiellen Wachstum hingegen wird der Zuwachs mit der Zeit größer: Beim Bierbrauen z. B. verdoppelt sich die Zahl der Hefezellen alle paar Stunden – aus einer Zelle werden zwei, dann sind es bald vier, acht, 16, 32, 64, 128, 256, 512, 1024 usw.
Das Covid-19-Virus breitet sich derzeit exponentiell aus: Aktuell verdoppelt sich die Zahl der Infizierten in Österreich alle zwei Tage und acht Stunden. Innerhalb von kaum vier Wochen kann ihre Zahl von derzeit 602 (Stand: Samstag, 8 Uhr) auf mehr als eine Million ansteigen, wie Forscher des Complexity Science Hub Vienna dieser Tage vorgerechnet haben. Das Teuflische an Exponentialfunktionen ist, dass das Wachstum anfangs kaum merklich ist – es bleibt eine Zeit lang deutlich hinter einem linearen Wachstum zurück, schießt dann aber regelrecht in die Höhe.

Allerdings: Unbegrenztes Wachstum ist in einer begrenzten Welt nicht möglich – irgendwann stößt man an Limits (darauf bezog sich auch der Titel des Club-of-Rome-Reports „Die Grenzen des Wachstums“). Das bedeutet, dass sich der Zuwachs irgendwann abschwächt („Sättigungseffekt“).

Die zentrale Frage ist, wo diese Limits sind. Bei vielen globalen Problemen befindet man sich mitten in der exponentiellen Wachstumsphase – etwa bei Energieverbrauch, Städtewachstum oder Meeresversauerung. Gleiches gilt zur Zeit auch für die Corona-Pandemie. Zumindest bei uns. Denn Daten aus China oder Singapur (wo Covid-19 schon fast zwei Monate früher grassierte), zeigen, dass die Zahl der Neuinfektionen nun deutlich zurückgeht – zum Teil wegen der drastischen Maßnahmen, zum Teil aber auch, weil immer mehr Menschen bereits Abwehrkräfte gebildet haben.

Der Mensch hat in der Evolution gelernt, die Dynamik von linearem Wachstum richtig einzuschätzen. Exponentielles Wachstum überfordert aber unsere Anschauung: Wir reagieren meist erst dann, wenn sich ein Problem rasant verschlimmert – dann ist es schon reichlich spät, um den Verlauf noch beeinflussen zu können. Im Fall von Corona hofft man, rechtzeitig eingegriffen zu haben. Ob diese Einschätzung richtig ist, wird man sehen.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com

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