Das Schweigen und die Scham

Inès Bayard erzählt die Geschichte einer Frau, die vom Opfer zur Täterin wird.
Inès Bayard erzählt die Geschichte einer Frau, die vom Opfer zur Täterin wird.Deborah Morier
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Inès Bayard erzählt in ihrem verstörenden Roman die Geschichte einer privilegierten Pariserin, deren Leben nach einer Vergewaltigung aus der Bahn gerät.

Alles wirkt perfekt in Maries Leben. Die Uni-Absolventin aus gutbürgerlicher Familie arbeitet als Bankangestellte in Paris. Mit ihrem Ehemann Laurent, einem Anwalt, hat sie beste private Voraussetzungen für eine stabile Zukunft. Das Paar Anfang 30 lebt in einer geräumigen Wohnung. Zum Abendessen speist man Entenbrust und Pfefferbraten. Zur Krönung ihres Glücks wollen die beiden ein Kind bekommen.

Doch dann bricht das Unglück in die sorgsam gehütete Welt Maries ein: Die junge Frau wird von ihrem neuen Chef auf dem Nachhauseweg vergewaltigt. Der Chef setzt sie unter Druck. Marie entschließt sich zu schweigen – niemand soll von dem Gewaltakt erfahren. Zu große Sorge hat sie davor, zu einem von allen bemitleideten Opfer zu werden. Und sie hat Angst, dass ihr Ehemann sich von ihr abwenden könnte.

Man kann sich fragen, ob dieser Entschluss einer privilegierten Frau in der heutigen Welt angemessen ist. Ist ihr Risiko tatsächlich so groß? Würde ihr nicht eher, in der Ära von #MeToo und zahlreichen rechtlichen Instrumenten, Schutz zukommen? Die französische Jungautorin Inès Bayard wählt für Marie einen anderen Weg – auch um die Idee ihres Buches zu verwirklichen: das Psychogramm einer Frau, die, von einem Schicksalsschlag getroffen, sich immer weiter im Unheil verrennt. Und ja, das trägt fraglos zum Sog des Romans bei, denn von der idealisierten Zweisamkeit ist es nicht weit bis zur Beziehungstat. Allerdings wird man beim Lesen den Gedanken nicht los, dass unbedingt etwas Schlimmes passieren muss.


Ekel vor dem Baby. Und so kommt es. Denn dann ist Marie schwanger und ganz sicher, dass ihr künftiges Kind aus dem Gewaltverbrechen entstanden ist. Während Gatte Laurent von dem Neugeborenen begeistert ist, ekelt sie sich vor dem Baby, würde es sogar am liebsten umbringen. Marie vernachlässigt den kleinen Jungen, holt ihn zu spät aus der Krippe ab. Auch in der Bank geht es bergab. Ihre Schwester droht hinter das Geheimnis zu kommen. Schließlich schöpft der Ehemann Verdacht, gibt einen Vaterschaftstest in Auftrag.

Frauen, die moralische und gesellschaftliche Grenzen überschreiten, sind ein beliebtes Thema jüngerer französischer Literatinnen. Man denke an die sexuellen Bekenntnisse der Catherine M., an Virginie Despentes rohe Schilderungen von Sex und Gewalt und natürlich an den Roman „Dann schlaf auch du“ von Leila Slimani, in dem ein Kindermädchen einen Kindsmord begeht. „Scham“ ist wie Slimanis Buch komponiert, das Verbrechen wird auf der ersten Seite gestanden.

Verstörende Konfrontationen. Bücher wie „Scham“ sind verstörend, weil sie Mutterschaft und Familie mit Gewalt konfrontieren. Bei Bayard wirkt die Aufeinanderfolge von Schrecklichem mitunter gekünstelt, was ihrem Stil geschuldet ist, der zwischen Realismus und stereotyper Darstellung schwankt. Treffend beschreibt sie hingegen, wie das Erlebte in die Vergangenheit rückt, aber nicht vergehen will. Noch bedrückender ist die individualisierte Existenz Maries. Selbst ihre Solidarisierung mit einem anderen mutmaßlichen Opfer misslingt: „Aus Vorsicht gehen alle schweigend durchs Leben.“

Bayard skizziert eine entsolidarisierte Gesellschaft, in der sich jede Betroffene allein durchkämpft. „Sie haben einfach weitergelebt, ohne darüber zu sprechen, haben ihr Unglück hinter den bequemen Gewohnheiten ihres geordneten, privilegierten Alltags versteckt.“ Schweigen die Opfer aus Scham oder gar, weil es einfacher ist? Bayard überlässt die Antwort ihren Lesern. Die Frauen aber entkommen ihrer Geschichte nicht.

Neu Erschienen

Inès Bayard
„Scham“

Übersetzt von Theresa Benkert

Paul Zsolnay Verlag

222 Seiten

22,70 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.03.2020)

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