Leitartikel

Europa braucht dringend eine Infrastruktur der Solidarität

Die Ereignisse der vergangenen Wochen lassen bereits drei Erkenntnisse zu. Erkenntnisse, die für uns Europäer nicht nur schmeichelhaft sind.
Die Ereignisse der vergangenen Wochen lassen bereits drei Erkenntnisse zu. Erkenntnisse, die für uns Europäer nicht nur schmeichelhaft sind.(c) APA/AFP/JOE KLAMAR
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Die Pandemie offenbart die Defizite der europäischen Staatengemeinschaft.

Krisensituationen haben die unangenehme Eigenschaft, verborgene Schwächen und charakterliche Defizite an die Oberfläche zu befördern. Wenn es um die sprichwörtliche Wurst geht, werden anerzogene Hüllen fallen gelassen. Das Persönlichkeitsbild, das in Momenten großer Gefahr zutage kommt, ist nicht immer schön anzusehen, sorgt aber immerhin für klare Verhältnisse – gemäß des alttestamentarischen Urteils über Belsazar, den Herrscher Babylons: „Du wurdest gewogen und für zu leicht befunden.“

Die Rolle des Menetekels fällt anno 2020 dem Coronavirus zu. Die Pandemie, gegen die sich die Weltgemeinschaft mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln stemmt, ist ein Offenbarungseid für politische Systeme und ihre Entscheidungsträger. Noch ist es viel zu früh, um die getroffenen Maßnahmen und die Art des Umgangs mit dieser Krise beurteilen zu können. Doch die Ereignisse der vergangenen Wochen lassen bereits drei Erkenntnisse zu. Erkenntnisse, die für uns Europäer nicht nur schmeichelhaft sind.

Die erste Conclusio: Im Umgang mit dem Virus gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit nicht mehr – denn Verhältnisse lassen sich nur dann benennen, wenn alle Faktoren gegeneinander abgewogen werden können. In der Pandemie-Gleichung ist Corona allerdings die große Unbekannte par excellence. Anders ausgedrückt: Die potenziell negativen Auswirkungen eines politischen Übereifers wiegen jetzt weniger als mögliche Folgen des Nichts- bzw. Zu-wenig-Tuns. Insofern ist es richtig, dass hierzulande das öffentliche Leben auf Standby geschaltet wurde, dass Frankreichs Staatschef, Emmanuel Macron, vom Krieg gegen die Seuche spricht, dass die Europäische Union regulatorische Bremsen lockert, dass Notenbanken die Märkte mit Geld fluten – und dass Großbritanniens Regierung von ihrem ursprünglichen Plan einer kontrollierten Durchseuchung der britischen Bevölkerung abgeht. Denn dieser Plan hätte vermutlich Zigtausende ältere und gebrechliche Menschen das Leben gekostet.

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